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Es lebe die Revolution – in Deutschland?

Von Caroline Rübe / 13. Januar 2021
picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopress

Sowohl Deutschland als auch Frankreich sind Demokratien. Doch Kritik wird in beiden Ländern sehr unterschiedlich geäußert: Mitunter ziemlich militant in Frankreich, eher konsensorientiert dagegen in Deutschland. Woran liegt das?

In Frankreich brennen Autos. Mal wieder. Vergangenes Silvester waren es 861, im Jahr davor 1.400, so die offizielle Statistik. Und warum? Aus Protest, jugendlichem Leichtsinn, manchmal für den Versicherungsbetrug. Doch auch um zu sagen: Wir sind hier und wir sind wütend. Dieses Phänomen würde in Deutschland sicherlich besonders heftige Diskussionen auslösen. Im Nachbarland sind Ausschreitungen dieser Art exemplarisch für die dortige Kritikkultur.

Für beide Länder aber gilt: Öffentliche Kritik ist wichtig, besonders in Demokratien. Diese Staatsform lebt vom Streit und vom Diskurs. Aber welche Formen der Kritik sind legitim? Was in Deutschland für Entsetzen oder mindestens Kopfschütteln sorgt, wird in Frankreich nicht selten mit einem Schulterzucken quittiert.

Wie lässt sich dieser Unterschied erklären?

Deutschland hat eine rege Demonstrationskultur: In den letzten Jahrzehnten wurde für den Umweltschutz, den Atomausstieg, die Seenotrettung und im Rahmen der Friedensbewegung auf die Straße gegangen. Selbst rechte Bewegungen geben sich immer öfter der öffentlichkeitswirksamen Meinungsäußerung auf der Straße hin und sind ziemlich präsent.

Trotzdem wirkt Frankreich radikaler. Massendemonstrationen und Arbeitskämpfe beeinflussen massiv den (politischen) Alltag. Proteste gegen eine Rentenreform sind schon fast Tradition. Immer wieder wird gestreikt und demonstriert, um soziale Absicherungen zu bewahren. Die französische Bevölkerung streikt im europäischen Vergleich am meisten, die Deutschen hingegen nur wenig.

Seit 2018 mobilisiert insbesondere die Gruppe der Gelbwesten zahlreiche Französinnen und Franzosen für ihre Protestaktionen. Sie entstand als Reaktion auf die Erhöhung der Benzinpreise durch eine Umweltsteuer. Viele fühlten sich von der Regierung übergangen, die zusätzliche Steuer belastete vor allem Menschen im ländlichen Raum. Die Bewegung ist sehr heterogen, gehört keiner Partei an und vereint ArbeiterInnen und Abgehängte mit unterschiedlichen und fast gegensätzlichen politischen Hintergründen. Sie alle fühlen sich geeint in ihrem Hass auf „die politische Elite“.

Auflehnung und Widerstand

Ja, protestiert wird in Frankreich häufig nicht unbedingt friedlich. Die Gewalt von Protestierenden aber dominiert nicht den gesellschaftlichen Diskurs: Aktuell polarisiert ein neues Polizeigesetz, welches das Filmen von BeamtInnen untersagt. Viele sehen in dem Verbot einen Freifahrtschein für Polizeigewalt, die oft nur dank der Aufnahmen Außenstehender ans Licht komme, wie es heißt.

Die konfrontative, kritische Haltung lässt sich nicht allein mit dem Klischee des revolutionären Franzosen erklären. In Frankreich trugen die Französische Revolution 1789, die Pariser Kommune von 1871 und die Studentenproteste im Mai 1968 zum Herausbilden einer historisch militanten Streitkultur bei, in der sich „das Volk“ gegen „die Herrschenden“ stellt. Auflehnung gegen die Obrigkeit war und ist hier eines der ersten Mittel der Wahl.

In Deutschland ist das Bild vom öffentlichen Widerstand eher von der Wende 1989 geprägt, als friedliche Demonstrationen zum Ende der DDR beitrugen. Auch die 68er-Revolte, die Anti-Atomkraftbewegung oder der Protest zum Nato-Doppelbeschluss prägen den überwiegend positiven Eindruck, der allerdings von Demonstrationen und weniger von Streiks dominiert wird. Dass es während des G20-Gipfels 2017 und aktuell im Hambacher Forst auch zu anderen Szenen kam, hinterlässt jedoch Spuren.

Konsensorientiert hier, Konfrontationskurs da

Es sind vor allem strukturelle Faktoren, die zu den unterschiedlichen Kritikkulturen beitragen. So ist das Streikrecht in Deutschland strenger, es darf nur aufgrund von Tarifverträgen und im Rahmen einer Gewerkschaft gestreikt werden. In Frankreich hingegen darf dieses Recht individuell und mit weniger Vorgaben wahrgenommen werden, solange berufliche Forderungen gestellt werden. Daher wird wesentlich öfter und in der Sache politischer gestreikt. Außerdem ist Frankreich ein zentralistischer Staat mit einem mächtigen Präsidenten an der Spitze. Wegen einer rigiden Aufgabenverteilung im Staatsapparat kann die Regierung umstrittene Gesetze ohne große Hürden auf den Weg bringen, trägt für diese Verantwortung – und bietet so Angriffsfläche. Deutschland ist in seinem politischen Geschehen eher an Konsens und Kompromiss orientiert: Die Regierung besteht oft aus einer Koalition. NGOs und Gewerkschaften nehmen früh Einfluss auf Gesetzgebungsprozesse. Möglichem Protest wird so der Wind aus den Segeln genommen.

Bei allen Unterschieden: Potential für eine Revolution besteht momentan wohl nicht. Im Gegensatz zur wachsenden Anhängerschaft rechtspopulistischer „Querdenker“ in Deutschland, die gegen Merkel und eine vermeintliche Meinungsdiktatur auf die Straße ziehen, finden sich in Frankreich weit weniger VerschwörungstheoretikerInnen. Französische ImpfgegnerInnen zum Beispiel hetzen nicht, sondern äußern ihre Kritik weithin im parlamentarischen Diskurs. Dort können es sich Oppositionsparteien leisten, Regierungsmaßnahmen besonders scharf zu kritisieren. Im föderalen Deutschland sind die großen Volksparteien in einer Legislaturperiode auf Länder- und Bundesebene oft zugleich in der Regierungsverantwortung und in der Opposition. Das verändert den Diskurs langsam, aber zusehends.

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