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FETT ZUFRIEDEN

Von Judith Dauwalter / 29. Januar 2020
picture alliance / DUMONT Bildarchiv | Martin Sasse

In zehn Jahren die Normalgewichtsspanne des Body-Mass-Index in alle Richtungen ausreizen: zwölf Kilo rauf und runter. Dass man damit glücklich und zufrieden sein kann, hat mit dem Adjektiv „fett“ zu tun und einem Umzug nach Südasien.

Meine früheste Erinnerung an eine negative Körperwahrnehmung ist mittlerweile volljährig. Ich muss damals ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein. Papa und Brüder waren wohl unterwegs, während ich mit meiner Mama einen “Mädelsabend“ auf dem Sofa verbrachte. Nachdem sie mich an der Treppe in unserem Haus mit einem Gutenachtkuss verabschiedet hatte, wollte ich gerade die erste Stufe nehmen und guckte dabei an mir herunter. Plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen: Auf einmal kamen mir meine Beine unförmig und breit vor. „Mama, ich hab total dicke Oberschenkel“, heulte ich.

Ich war damals ein schmächtiges Mädchen mit keinerlei Gramm Fett am Körper, geschweige denn dicken Oberschenkeln. Ein erster, früher Anflug mädchenhaft-pubertärer Unsicherheit war das, sicher. In eine Richtung, die mir wohl vertraut war aus der Welt der Frauen. Diese Thematik gab mir ein Gefühl der Zugehörigkeit. Mehr noch, ich fühlte mich verstanden von einer Mutter, die ich jahrelang bei ihrem Kampf gegen die Kilos beobachtet hatte. Eine Achterbahnfahrt der Kilos, markiert durch wöchentlich eingeschobene “Obsttage“ und karge Abendessen. Und dabei lag ihr Gewicht sicher immer im Normalbereich.

Umgekehrter Körperdruck

Als ich dann wirklich in die Pubertät kam, war diese Entwicklung begleitet von einer üppigen Gewichtszunahme. Neben mir wirkten meine Brüder ausgesprochen schmächtig. Sie haben eindeutig die Statur unseres Vaters geerbt, der Zeit seines Lebens untergewichtig war – und immer erfolglos blieb im umgekehrten Sinne: Kämpfte meine Mutter gegen die Kilos, so jagte er ihnen hinterher.

Ich erahnte erst viel später, wie dieser umgekehrte Körperdruck meinen Vater und meine Brüder belastet haben muss. Sie durften sich nie beschweren über ihre magere Statur. „Du hast Probleme!“ oder „Ich gebe dir gern was ab!“, waren typische, abschätzige Reaktionen darauf. „Hungerhaken“ zählte dabei noch zu den netteren Kommentaren.

„Fette Kuh!“ Gedankenlos hingeworfene Beschimpfungen meiner Brüder im Streit – das traf mich in meiner jugendlichen Sensibilität hart. Oft nahm ich mir vor, aus “Rache“ eine Essstörung zu entwickeln. Darüber las ich schließlich eine ganze Menge in Jugendzeitschriften und sah auch genug unnatürlich ausgemergelte Mädchen im schulischen Umfeld. So weit kam es bei mir aber zum Glück nie. Dafür habe ich einfach zu gern gegessen.

Diätpläne habe ich trotzdem immer wieder neu aufgestellt und die nahmen, akribisch wie ich bin, mitunter absurde Formen an: Jeden Morgen der Gang zur Waage und wenn das Ziel auch nur um 100 Gramm verfehlt war, gab es nur Obst zum Frühstück. Überhaupt, nach Mutters Vorbild plante ich jede Woche einen Obsttag ein. Jedem Bissen Schokolade folgte ein schlechtes Gewissen. Aber auch viel Sport.

Das alles hatte mal mehr, mal weniger Erfolg. Seit meinem 15. Lebensjahr hat meine Waage jede Zahl zwischen 56 und 68 Kilo schon mehrfach angezeigt. Eine Spanne, die bei einer Körpergröße von 1,67 Metern beide Enden der Normalgewichts-Skala ausreizt, zumindest wenn man sich nach dem Body-Mass-Index (BMI) richtet. Mit dem Auf und Ab meines Gewichts stieg und sank entsprechend die (Un-)Zufriedenheit mit meinem Körper.

„Weiß und fett“

Bis ich nach Sri Lanka kam. Dort purzelten die Kilos, auch ohne große Anstrengung. Tropisches Klima, kaum Appetit und nur essen bei Hunger, zudem viel Bewegung und jede Menge Ablenkung dürften dafür verantwortlich sein. Neben meinem Gewicht verlor ich schließlich auch mein Herz.

Ich verliebte mich in einen Einheimischen und kam schon drei Monate später wieder. Seine Familie empfing mich begeistert und warmherzig – und immer wieder fielen die Attribute „white and fat“. „Weiß“ und „fett“ sei ich im kalten Deutschland geworden. So ziemlich die zwei negativsten Beschreibungen, die ich mir in Bezug auf mein Äußeres vorstellen konnte. Zu allem Überfluss kamen mir in diesem Land sowieso alle Menschen derart klein und zierlich vor, dass ich mich wirklich fühlte wie ein großer, dicker Trampel.

Drei Jahre lang verbrachte ich so gut wie jeden verfügbaren Urlaubstag auf der südasiatischen Insel, vor eineinhalb Jahren bin ich ganz dorthin gezogen. Achten die meisten sri-lankischen Frauen streng darauf, Knie und Schultern zu bedecken – so entblößt ihr traditionelles Gewand, der Sari, meist sehr offensichtlich ihren Bauch. Nicht selten einen gewaltigen Bauch. Spätestens nach der ersten Schwangerschaft. „Vorher war ich mager, jetzt bin ich fett“, beschrieb mir eine Cousine meines Freundes ihre eigene Körperentwicklung. Gefolgt von lautem Lachen und ohne jegliches Bedauern über diesen Umstand.

Wie in vielen asiatischen Ländern gilt auch auf Sri Lanka eine weiße Hautfarbe als erstrebenswertes Schönheitsideal. Beinahe jede erhältliche Feuchtigkeitscreme wirbt mit „whitening effect“. Üppigere Körperformen hingegen gehören nicht so eindeutig zum idealen Äußeren. Das ist auch mangels aussagekräftiger Studien schwer allgemeingültig auszumachen. Vor drei Jahren beschrieb allerdings ein Artikel im „Ceylon Medical Journal“ das Thema. Darin hieß es, dass die Sri Lanker insgesamt eher zu ausladenden Figuren neigten und dies in Südasien traditionell ein Zeichen für Gesundheit sei.

Dafür sprechen mittlerweile auch meine persönlichen Erfahrungen – in Form von Standpauken weiblicher sri-lankischer Verwandter, als mein Gewicht nach einem Jahr vor Ort im unteren BMI-Bereich angelangt war. Zum Sommerurlaub nach Deutschland zurückgekehrt, bemerkte dagegen hier jeder, wie toll ich doch aussähe.

So verschieden die Urteile, gewiss ist: Sri Lanka hat mich persönlich im Blick auf mein Äußeres entspannt. Ich kann heute selbst Scherze darüber machen, dass ich nach meinem nächsten Deutschlandaufenthalt dank viel Käsegenuss wohl „fett“ zurückkommen werde. Und wenn die Waage mal wieder Kapriolen schlägt, bekomme ich das kaum mit – denn sie ist nicht mehr mein allmorgendlicher Begleiter. Esse ich, dann aus Hunger und mit Genuss. Strikte Diätpläne habe ich verworfen und versuche, mich nicht mehr um Berg- und Talfahrten meines Gewichts zu scheren. Und bin inzwischen so zufrieden mit meinem Äußeren wie noch nie.

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