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Ganz normaler Alltagsrassismus

Von Zita Hille, Christa Roth / 9. September 2020
picture alliance / NurPhoto | Artur Widak

Wer oder was uns im Alltag „normal“ erscheint, bleibt oft über Generationen hinweg unhinterfragt bestehen. So ist auch die Gleichstellung verschiedener Personengruppen ein erst relativ junges gesellschaftliches Phänomen. Doch warum halten einige Menschen Rassismus und andere Formen von Diskriminierung noch immer für legitim?

In den letzten Monaten empörte das Schicksal George Floyds die ganze Welt: Am 25. Mai 2020 wird der 46-jährige Afroamerikaner in Minneapolis durch eine gewaltsame Festnahme mehrerer Polizisten getötet. Millionen von Menschen protestieren daraufhin mit der „Black Lives Matter“-Bewegung gegen institutionellen und Alltagsrassismus. Denn dies ist die Normalität vieler dunkelhäutiger Personen – auch in Europa: 2018 fühlten sich 26 Prozent der 16- bis 24-Jährigen laut der Studie „Being Black in the EU“ der Agentur der EU für Grundrechte (FRA) davon betroffen. Sie sind zum Beispiel benachteiligt, wenn es um die Vergabe von Mietwohnungen, Studienplätzen oder schlicht den Einlass in Diskotheken geht. Aber warum ist das so? Und warum akzeptiert die Mehrheit dies als alltäglichen Zustand?

Der Ursprung des Rassismus

Schon im 18. Jahrhundert widmeten sich Naturforscher der Gruppierung von Menschen in Rassen, um eine Klassifizierung herzustellen. Der schwedische Forscher Carl von Linné schrieb in seinem Werk „Systema Naturae“ von den „vier Varietäten des modernen Menschen“:

  • Der „Homo Europeus“, typisch für ihn: seine weiße Hautfarbe, sein „sanguinisches Wesen“ und seine muskulöse Gestalt.
  • Der „Homo Asiaticus Luridus“, gelbe Hautfarbe, melancholischer Charakter, steif.
  • Der „Homo Americanus Rufus“, rot, cholerisch und aufrecht.
  • Der „Homo Africanus“ mit den Merkmalen schwarz, phlegmatisch und schlaff, also träge.

Aus heutiger Sicht ist es mehr als anmaßend, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Charakteristika zuzuschreiben. Ebenfalls problematisch: Linnés Erklärung, der Homo Africanus, damals „Neger“ genannt, sei das Bindeglied zwischen dem Orang-Utan und Apollon, dem als weißer Mann dargestellten Gott des Lichts. Noch 1977 fanden sich Linnés Thesen in einem französischen Schulbuch, von dem 8,5 Millionen Exemplare verkauft wurden. Und natürlich nicht nur in Frankreich hielten sich Weiße durch die lange Trennung in „schwarz“ und „weiß“ und den Sklavenhandel in technischer, wirtschaftlicher und bald auch in religiöser, sprich moralischer Hinsicht Nicht-Weißen überlegen.

An die neue Normalität gewöhnt werden

Das ist umso tragischer, denn Dinge, die man als Kind lernt und die fest zu den eigenen Glaubenssätzen gehören, sind schwerer abzulegen. Dies ist vermutlich einer der Gründe, warum rassistische Ansichten von Generation zu Generation weitergetragen wurden und auch heute noch für zahlreiche Menschen als „ganz normal“ gelten. Zwar ist bekannt, dass Erbgut weder schwarz noch gelb noch weiß noch rot ist. Rassistische Einstellungen beruhen jedoch nicht auf solchen rationalen Grundlagen. Sie sind das Ergebnis situationsbedingter Emotionen und Empfindungen, die tradiert wurden.

Vielfache Diskriminierung

Doch nicht nur rassistische Diskriminierung ist ein Problem. Die LGBTQIA+-Bewegung (deutsch: Vereinigung Unterstützer*innen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Pansexuellen, Transgendern, Genderqueeren, Queeren, Intersexuellen, Agendern und Asexuellen) findet nicht genug politische Beachtung und gesellschaftliche Akzeptanz. Viel zu oft noch sind Männer, die sich in der Öffentlichkeit küssen, händchenhaltende Frauen oder ein sich in Frauenkleidern zeigender Mann verstörten Blicken ausgesetzt. Von anderen Übeln ganz zu schweigen. In zwölf Ländern der Welt wird Homosexualität selbst heute mit der Todesstrafe bestraft, in 56 Ländern muss man dafür mit einer Haftstrafe rechnen.

Auch das Deutsche Kaiserreich setzte die homosexuellen Handlungen von Männern lange unter Strafe, bis im Jahr 1994(!) der berühmte Paragraph 175 StGB abgeschafft wurde. In der Medizin sowie der Psychologie hielt man Homosexualität lange Zeit für eine Krankheit. Erst ab 1992 tauchte sie nicht mehr im Katalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf. Bis zu diesem Wandel wurden oft medizinische und psychotherapeutische Zwangsbehandlungen verordnet. Und jenseits von Justiz und Medizin spielten auch die Kirchen eine unrühmliche Rolle, galt ihnen doch Homosexualität als pure Sünde.

Was sagen die Medien?

Die Verantwortung von Journalistinnen und Journalisten und Medienhäusern ist in diesem Zusammenhang umso größer geworden und der Grat zwischen der eingeforderten objektiven Berichterstattung und ebenso nachgefragten richtungsweisenden politischen Statements noch immer schmal. Aber ist es unrechtmäßig, wenn eine Journalistin sich offen gegen Rassismus stellt und damit ihrer eigenen subjektiven Meinung medial Raum verschafft? Nein, hier ist Haltung das Schlüsselwort.

Unabhängig und umfassend über Themen wie rassistische Übergriffe und Diskriminierung informieren kann auch noch, wer sich als Journalist*in bereits klar dagegen positioniert, findet Sven Pietsch, Chefredakteur von ProSiebenSat.1. Und Marieke Riemann, Chefredakteurin von ze.tt, erinnert in ihrem Artikel „Diversität in den Medien – Auf einmal geht’s!“ daran, wie bereits Sprache Rassismus fördern kann und dass in Unternehmen generell auf mehr Vielfalt innerhalb der eigenen Strukturen geachtet werden sollte.

Und die Quintessenz?

Normalität, also was wir im Alltag dafür halten, ergibt sich nicht einfach von selbst. Wir lassen sie entweder durch Passivität zu oder reproduzieren sie gewohnheitsmäßig selber immer wieder. Bis mit der Zeit daraus eine (unhinterfragte) Selbstverständlichkeit, ein Recht wird. Nur eben meist nicht sofort für alle.

Dabei zeigt die 2017 beschlossene „Ehe für alle“, wie ein Stück Normalität in alltäglichen Angelegenheiten wie partnerschaftlichen Arrangements gewährleistet werden kann. Solange aber der Widerstand gegen eine solche Gleichbehandlung leider nicht zu unterschätzen ist, bedarf es der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und insbesondere Artikel 3 des Grundgesetzes. Sie sollen sicherstellen, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe, sexuellen Identität, Religion oder Herkunft als gleichwertige Personen wahrgenommen werden – wenn wir selbst es nicht tun.

3 Antworten auf „Ganz normaler Alltagsrassismus“

  1. Von Daniel am 9. September 2020

    Ein sehr schöner und sehr gut recherchierter Artikel. Vor allem die Tatsache, dass Homosexualität heutzutage in 56 Ländern immernoch mit einer Haftstrafe bestraft wird, ist auf der einen Seite zwar interessant zu wissen, aber immernoch schockierend. Meiner Meinung nach sollte jemand, der sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt nicht als krank abgestempelt werden.

  2. Von Timi am 9. September 2020

    Interessanter Artikel und wichtiges Thema.

  3. Von Peter am 10. September 2020

    Ein sehr gut geschriebener Artikel, der die gesellschaftliche Problematik sinnvoll aufgreift

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