Gernot Erler: Runder Tisch für Russland
Der Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Gernot Erler, sitzt seit zweieinhalb Jahrzehnten im Deutschen Bundestag. Als stellvertretendes Mitglied u.a. im Parlamentsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie im Auswärtigen Ausschuss und als ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt ist der Historiker ein großer Kenner deutscher Außenpolitik, Internationaler Beziehungen und zudem ein geachteter Osteuropa- und Russlandexperte. Erler kam […]
Der Stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Gernot Erler, sitzt seit zweieinhalb Jahrzehnten im Deutschen Bundestag. Als stellvertretendes Mitglied u.a. im Parlamentsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sowie im Auswärtigen Ausschuss und als ehemaliger Staatsminister im Auswärtigen Amt ist der Historiker ein großer Kenner deutscher Außenpolitik, Internationaler Beziehungen und zudem ein geachteter Osteuropa- und Russlandexperte. Erler kam Anfang der Woche von einer Kurzreise nach Russland zurück und berichtet exklusiv auf sagwas.net von seinen Eindrücken, die er in der Hauptstadt eines seit der Parlamentswahl im Dezember 2011 in Aufruhr befindlichen Landes sammeln durfte.
Bei der Wahl der Staatsduma, dem Unterhaus des russischen Parlaments, hat die unter Präsident Dmitri Medwedew regierende Partei Einiges Russland massiv an Stimmen verloren, konnte jedoch stärkste Kraft bleiben. Die Opposition, NGOs und ausländische Wahlbeobachter werfen den Machthabern massiven Wahlbetrug vor. Die Kritik richtet sich dabei weniger gegen den gegenwärtigen Präsidenten. Im Fokus steht vielmehr der ehemalige Präsident und jetzige Ministerpräsident Wladimir Putin. Er möchte bei den im März anstehenden Präsidentschaftswahlen erneut antreten und gilt deshalb als eigentlicher Strippenzieher hinter den Kulissen. Ein offenes Geheimnis. Nun haben die Massenproteste und Kritik aus dem Ausland in den letzten Wochen den Stuhl Putins ins Wanken gebracht.
Wir fragten Gernot Erler nach dem Traum, der die Reihen der sehr vielschichtigen Opposition schließt und sie motiviert, an ihrem Protest festzuhalten. Glauben die Protestierer wirklich, dass Putin hinweg gefegt werden kann?
Tunesien, Ägypten und Libyen – vor einem guten Jahr begannen die ersten Dominosteine zu fallen und es entstand das geflügelte Wort vom Arabischen Frühling, auch von der Arabellion war die Rede. In welcher politischen Jahreszeit die einzelnen Aufstände am Ende münden werden, bleibt abzuwarten. Dennoch ging ein großer Aufschrei für Freiheit durch Nordafrika, dessen Echo heute noch im gesamten Nahen Osten zu hören ist, momentan am lautesten in Syrien. In Ägypten zeigt sich unterdessen, dass die Revolution wohl auch in diesem Fall ihre Kinder frisst. Bei den Parlamentswahlen sind religiöse Parteien als stärkste Kräfte hervorgegangen, die sich in der Vergangenheit nicht gerade Werte wie Freiheit und Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben haben. Es bleibt abzuwarten, wie demokratisch die Muslimbrüder tatsächlich geworden sind. Sie sind die sicheren Wahlsieger.
Die Einigkeit, die es unter den Protestparteien noch während der Aufstände gab, scheint verflogen. In Russland wirkt die Opposition ähnlich heterogen. Das Pendant zu den religiösen Kräften im arabischen Raum sind im Kernland der ehemaligen Sowjetunion die Nationalisten und Extremisten. Welche Rolle spielte für das gemeinsame Marschieren der unterschiedlichen Oppositionskräfte die so genannte Rochade, die im September letzten Jahres angekündigt wurde, bei der Medwedew und Putin das Amt des jeweils anderen einnehmen sollen – Ein Tausch zwischen Staats- und Ministerpräsident?
Gernot Erler hat bereits in seinen Anfangszeiten als bundesdeutscher Parlamentarier die Zusammenarbeit von Opposition und Regierung in der damals noch bestehenden DDR, unmittelbar nach dem Fall der innerdeutschen Grenzen, verfolgen dürfen. Beide Seiten des politischen Systems der DDR trafen sich damals am Zentralen Runden Tisch, dessen Vorbild der Runde Tisch im Polen der Solidarność-Bewegung war. In beiden Fällen war dieses Gremium ein Reaktionsbeschleuniger für die Zusammenarbeit der unterschiedlichen politischen Lager.
Gernot Erler erfuhr bei seinem Moskau-Aufenthalt von Bestrebungen beider Seiten, Regierung und Opposition, auch in Russland ein solches mediatives Intsrument zu installieren. Im dritten Video berichtet er davon und nennt den Namen eines der Hauptprotagonisten, die hierfür vorgesehen sind. Ein russischer Runder Tisch wäre ein Novum im Land des mächtigen Putin und wohl ein großes Eingeständnis gegenüber der gewachsenen Macht der Oppositionskräfte. Über die Nachhaltigkeit und Art des Wirkens der Gesprächsrunde lässt sich aber zum jetzigen Zeitpunkt keine Prognose formulieren. Die nächsten Wochen werden zeigen, in welche Richtung sich Russland bewegen wird. Für den 04. Februar sind weitere Massenproteste der Opposition angekündigt.
Welche Chancen hat ein Runder Tisch in Russland? Kann aus der gelenkten Demokratie eine wirklich freiheitliche werden? Sind die gegenwärtigen Proteste Chance oder Damoklesschwert für das größte Land der Welt?
Diskutiert mit Gernot Erler auf sagwas.net!
*buttons*
Debattenfazit: Runder Tisch für Russland
Kurz nach seiner Rückkehr aus Moskau Ende Januar stieß Gernot Erler auf sagwas.net eine Debatte über die Protestbewegung in Russland an. Die Oppositionskräfte mobilisieren seit Monaten regelmäßig Menschenmassen, um sich gegen das Machterhaltungssystem Putins aufzulehnen. Im Mittelpunkt der Reise von Erler standen auch Gespräche mit Akteuren der Regierung, der Opposition und verschiedener NGOs. Dabei stellte sich heraus, dass ein Runder Tisch im Gespräch ist. Wie sieht nun, einige Wochen später, der Stand der Dinge aus? Kam es bereits zu einem Runden Tisch? Gernot Erler gibt eine Statusmeldung ab und bilanziert zugleich die von unseren Usern aufgeworfenen Fragen, Ergänzungen und Zustimmungen.
Wir danken Euch für die Teilnahme und freuen uns, bald Gernot Erler mit einem neuen Debatten-Thema auf sagwas.net zeigen zu können.
Na der runde Tisch wird in Russland wird genauso viel bringen wir in Deutschland: Nichts außer viel Gerede, ein paar Artikeln und Radiobeitrögen, einer Abschlussbroschüre und ein netter Gruppenbild. Austausch ist ja echt ganz nett, aber in Russland geht es nicht um die Begrünung von Mittelstreifen, sondern darum, dass ein Land immer weiter nach rechts rutscht, von Korruption zerfressen und vom Geheimdienst gesteuert wird. Und dagegen dann ein runder Tisch? Wirklich?
Wenn Putin sich an einen runden Tisch mit der Oppostion setzen muss, dann ist das schon mal ein echtes Novum und ein Gewinn der Putingegner. Aber ich fürchte, das war es dann auch mit dem Gewinnen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Machtmensch, Politprofi und Geheimdienstfreund Putin sich von einem runden Tisch die Macht beschneiden lässt. Und was das Volk will, hat in Russland schließlich noch nie jemanden interessiert. Und: Moskau ist nicht Russland…
So weit wir jetzt ist die Opposition in Russland noch nie gekommen. Das halte ich für ein gutes Zeichen. Und auch ein runder Tisch wäre ein wichtiges Signal an die Bevölkerung. Der Westen, also vor allem auch Deutschland, dürfen aber nicht aufhören hinzusehen, zu mahnen und Demokratie einzufordern. Immer und immer wieder. Und das auch trotz Öl- und Gaslieferungen!
Was ich mich frage: Warum erst jetzt die Proteste? Wahlfälschung gibt es seit Putin 2000 an die Macht gekommen ist. War es wirklich das arabische Vorbild was zumindest urbane Russen wachgerüttelt hat oder steckt doch noch etwas anderes dahinter? Bin gespannt auf Eure Meinungen!
Zum runden Tisch: Ich fände es toll, wenn es dazu tatsächlich kommen würde – aber auch wenn es mediale Aufmerksamkeit bekäme. Die Transformationsforschung besagt auch, dass ein ausgehandelter Systemwandel nachhaltiger (obgleich defizitär) ist.
Noch eines: Putin saß schon mal mit den Oligarchen an einem runden Tisch…