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„Ich bin nicht religiös, aber…“

Von Melina Aboulfalah / 9. November 2022
picture alliance / Zoonar | Robert Kneschke

Religion klingt nach verstaubter Weltsicht. Glaube scheint wenigstens Hoffnung zu schenken. Spiritualität setzen viele dagegen mit einer exklusiven Lebenseinstellung gleich. Warum eigentlich?

Offiziell gehört die Mehrheit der Menschen in Deutschland einer Religion an, nur etwa ein Drittel ist konfessionslos. Nicht-religiöse Menschen in meinem Umfeld beanspruchen stattdessen immer häufiger den Begriff der „Spiritualität“ für sich. Eigentlich absurd.

Einem Aufsatz der Religionssoziologen Detlef Pollack und Olaf Müller von der Universität Münster zufolge sehen sich 22,6 Millionen Deutsche als Teil der katholischen Kirche, knapp 21 Millionen begreifen sich als protestantisch. Islamische Gemeinschaften verbuchen knapp sechs Millionen Mitglieder. Ein paar weitere Millionen Gläubige verteilen sich auf orthodoxe, jüdische, hinduistische, buddhistische oder jesidische Gemeinschafen, Freikirchen und andere Glaubenseinrichtungen.

Irgendwas mit Gott?

Das klingt nach sehr viel Religiosität. Doch, seien wir mal ehrlich, wir alle wissen, vielleicht sogar aus eigener Erfahrung, dass eine eingetragene Religionszugehörigkeit und religiöse Praxis nicht dasselbe sind.

Das zeigt sich in nicht-repräsentativen Unterhaltungen wie dieser, die ich aus purer Neugier gern und ziemlich oft führe:

„Ich bin katholisch getauft. Mit der Kirche habe ich aber primär bei der Steuererklärung zu tun“, erzähle ich meinem Gegenüber lachend und versuche beim Zwinkern vergeblich eine Augenbraue hochzuziehen. Das erwidert (wie auch viele andere Gesprächspartner häufig) mit leichtem Ernst in der Stimme: „Ich bin auch nicht religiös, würde mich aber als spirituell bezeichnen.“

Okay. An dieser Stelle unterdrücke ich in der Regel ein Augenrollen. Für mich ist die Konjunktion „aber“ hier unpassend, wenn man bedenkt, dass insbesondere Spiritualität ein zentrales Merkmal von Religion darstellt.

Im Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung von 2013 heißt es: „Die Daten deuten darauf hin, dass von einer ‚spirituellen Revolution‘ […] nicht die Rede sein kann: Im Vergleich mit den Werten zur Religiosität schätzen sich noch weniger Befragte als ‚ziemlich‘ oder ‚sehr‘ spirituell ein […].“

Und heute? Zugegeben, Religion zu definieren, ist auch gut zehn Jahre später gar nicht so leicht. Entsprechend vage sind Einordnungen wie die der Bundeszentrale für politische Bildung: „Religiöse Menschen […] glauben an Gott oder an etwas Göttliches.“

Hilfreich geht anders. Ziehen wir den US-amerikanischen Religionssoziologen Charles Glock zurate. Dieser betont die Multidimensionalität von Religion, die Kategorien wie Glaube, Erfahrung, Praxis, Wissen und Ethik umfasse. Religion ist also mehrschichtiger, als es die reine Zugehörigkeit zu Gott oder zu „etwas Göttlichem“ verspricht.

Die modifizierte Gretchenfrage

Nun zur Spiritualität. Der Duden definiert sie als „Geistigkeit; inneres Leben“. Wie aber passt dieses „innere Leben“, mit dem sicher nicht die Darmflora gemeint ist, in unsere Religionsdefinition? Am besten stellt man die modifizierte Gretchenfrage aus Goethes „Faust“ direkt religiösen Menschen selbst: „Nun sag, wie hast du’s mit der Spiritualität?“ Wobei… man sollte auch keine Tragödien heraufbeschwören und statt klarer Antworten heilloses Herumdrucksen provozieren.

Der promovierte Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach Anselm Grün und der Islamwissenschaftler Prof. Ahmad Milad Karimi kennen sich dagegen gut mit Religion aus. Sehr gut. Zusammen haben sie ein Buch geschrieben, in dem sie sich über Christentum und Islam austauschen. „Die Begegnung von Christentum und Islam bleibt immer die Begegnung eines Christen und eines Muslims. Und doch gibt es im Gespräch zwischen den Religionen etwas, das verbindet: die Spiritualität“, heißt es in der Buchbeschreibung zu „Im Herzen der Spiritualität“, so der Titel. Ob Maria, Moschee oder Mystik: Anhand diverser Beispiele diskutieren die beiden Autoren ihre eigene Geistigkeit. Spiritualität wird hier fassbar und fast schon zur interreligiösen Brückenbauerin mit Doktortitel.

Religion ist veränderbar

Es ist doch so: Verschiedene spirituelle Praktiken, wie Meditation, Fasten oder Pilgern, spielen nicht nur in Christentum und Islam eine Rolle. Auch Yoga, das Nonplusultra der Säkular-Spiritualität, ist eng mit dem Hinduismus, immerhin eine der ältesten Weltreligionen, verflochten. Spiritualität und Religion lassen sich darum nicht in getrennten Sphären verorten. Das gilt für „Exklusiv-Spirituelle“ wie mein erwähntes Gegenüber. Und natürlich auch für „Offiziell-Religiöse“ wie mich, die ihre Religion auf die Taufurkunde reduzieren, sowie „Riten-Religiöse“, die religiöse Bräuche gewohnheitsmäßig ausführen und nicht aus spiritueller Überzeugung.

Doch warum wird an dieser Entkopplung von Religion und Spiritualität festgehalten? Sexualisierte Gewalt in der Kirche oder nicht zeitangemessene (um nicht zu sagen: diskriminierende) Ansichten religiöser Autoritäten haben gewiss nicht dazu geführt, dass allerorten Lobeslieder auf die Religion gesungen werden. Gleichwohl gibt es Reformbestrebungen, feministische Koranexegese oder queere Gottesdienste. Soll heißen: Religion verschließt sich ganz und gar nicht vor Veränderung. Anders als manche Menschen.

Ist Spiritualität im Sinne meiner Gesprächspartnerin eine Art Protest? Braucht sie schlicht keine Institution, die (wie es leider oft noch der Fall ist) paternalistisch, mit erhobenem Zeigefinger zwischen ihr und einer höheren Macht steht? Und hat das alles womöglich irgendwas mit Kapitalismus, Wahlfreiheit und Individualisierung zu tun? Kann sein. Aber wenn mein Gegenüber das nächste Mal die Yogamatte ausrollt oder eine Fastenkur nach Hildegard von Bingen startet, sollte sie ehrlicherweise die Unteilbarkeit von Religion und Spiritualität anerkennen. Nicht deren Unvereinbarkeit.

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