„Integration ist einfach kein schneller Vorgang“
Das Freilichtmuseum am Kiekeberg nahe Hamburg setzt sich in einem neuen Projekt mit dem Leben und Wohnen der Nachkriegszeit und der Flüchtlingssituation im Landkreis Harburg nach 1945 auseinander. Der Museumsdirektor Rolf Wiese erklärt im Interview, wie Integration damals stattgefunden hat und was wir heute daraus lernen können.
Herr Wiese, wie kamen Sie auf die Idee, ein Projekt über Flüchtlinge zu machen?
Ein Drittel der Ehrenamtlichen, die für das Museum arbeiten, hat einen Fluchthintergrund. Als wir das feststellten, fingen wir an, zu recherchieren. Das Ganze wurde schnell faszinierend, weil wir herausfanden, dass mehr als die Hälfte der Einwohner hier in der Region keine Einheimischen im eigentlichen Sinne sind, sondern einen Migrationshintergrund haben.
Innerhalb weniger Jahre verdoppelte sich nach 1945 damals die Bevölkerungszahl im Landkreis Harburg durch den Zuzug sogenannter „Displaced Persons“, also vornehmlich osteuropäischer Zwangsarbeiter, aber auch deutscher Flüchtlinge. Wie reagierten die Einwohner auf die „Neuankömmlinge“?
Am Anfang verlief die Integration holprig, das ist klar. Hier sind nach Kriegsende so riesige Flüchtlingstrecks angekommen, dass alle Straßen verstopft waren, es ging nichts mehr. Da gab es viele, die gesagt haben, dass sie damit nichts zu tun haben wollen.1945 gab es beispielsweise große Probleme, weil sich die Bauern massiv gegen die Zwangseinquartierung von Flüchtlingen gewehrt haben. Als dann die ersten Geflüchteten anfingen, zu bauen, wurden sie an den Rand der Ortschaften gedrängt. Hinzu kam, dass die geflüchteten Menschen oft einen anderen Dialekt sprachen und damit sofort als „fremd“ eingestuft wurden. Integration ist einfach kein schneller Vorgang. Sie funktioniert nicht innerhalb von fünf oder zehn Jahren.
Welche Konzepte gab es denn, um die Menschen hier zu integrieren?
Der Landkreis Harburg war mit 60.000 Menschen dünn besiedelt und es gab Platz. Im Nachhinein betrachtet ist das natürlich ein großer Vorteil. Denn das ermöglichte ein sehr erfolgreiches Konzept, das die Engländer und später auch die ersten Landräte hier vor Ort verfolgten. Die Menschen sollten sesshaft werden, indem sie sich ein Haus bauten – und das auf großen Grundstücken, damit sie sich über den Garten selbst ernähren und Tiere halten konnten.
Wie hat die langfristige Integration dieser Menschen funktioniert?
Man hat sie so direkt in das Dorfleben mit hineingezogen. Viele dieser Menschen waren unendlich fleißig Dieser Fleiß nötigte den Dorfgemeinschaften Respekt ab. Die Menschen gingen später in die gleichen Vereine, waren auch bei der Feuerwehr, in den Schützenvereinen. Darüber fand schrittweise eine Integration statt.
Sind die Konzepte aus der Vergangenheit auf die Gegenwart anwendbar?
Es gibt durchaus Parallelen, aber nicht alles lässt sich vergleichen. Beispielsweise ist die Situation in den Dörfern heute eine ganz andere als damals. Wenn Sie früher in ein Dorf gingen, gab es dort ein sehr aktives Vereinsleben, das wichtig für die Freizeitgestaltung war. Heute ist das anders, fast alle Vereine haben Überlebensprobleme. Hier bietet die aktuelle Flüchtlingssituation viele Chancen für den ländlichen Raum, wieder mehr Leben in die Dörfer zu bringen.
Gibt es trotzdem Lehren aus der Vergangenheit?
Ja. Damals war es so, dass sich die Menschen selbst helfen konnten. Es wurde ihnen nicht verboten, zu arbeiten. Daran erkennt man in meinen Augen, wie wichtig es ist, die Menschen auch heute unmittelbar in Arbeit zu bringen. Sie müssen in den Betrieben im Umfeld arbeiten. Das ist nicht nur gut für das Selbstwertgefühl der Menschen, sondern auch für die Region. Da haben wir im Moment noch Barrieren, da ist der Staat noch zu langsam. Ein weiterer entscheidender Faktor damals war die große soziale Verantwortung innerhalb der Dörfer, die Nachbarschaftshilfe untereinander. Die sehe ich auch heute vielfach: Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die eine unglaubliche Hilfsbereitschaft zeigen.
Was wollen Sie in Anbetracht der heutigen Flüchtlingssituation in Deutschland mit ihrem Projekt zeigen?
Wir wollen zum einen vermitteln, dass mit den Flüchtlingen damals ganz viele Innovationen hier her gekommen sind, die den Landkreis nachhaltig positiv verändert haben – übrigens auch im kulinarischen Sinne. Und dass wir unglaublich stolz sein können auf diese Entwicklung, auf das, was hier geschaffen wurde. Natürlich kann man immer sagen, es gibt hundert Sachen, die noch nicht geschafft wurden, aber diese Prozesse sind insgesamt sehr erfolgreich verlaufen. Man kann die damalige und die heutige Situation nicht gleichsetzen. Aber ich denke, es geht vor allem um das Gefühl dafür, wie man eine Situation lösen kann. Wenn man die positiven Ergebnisse von früher sieht, dann kriegt man eine positive Einstellung für die Veränderungen heute.