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Ist Europa noch zu retten?

Von Daniel Männlein / 16. Juni 2018
picture alliance / Zoonar | Wolfgang Rieger

Europa steht großen Herausforderungen gegenüber. Genauso wie die Europäische Union. Politikerinnen und Politiker fordern eine echte europäische Solidarität. Allerdings herrscht darüber, was „Solidarität“ konkret meint, keine Einigkeit und so folgen auf beschwörende Worte kaum Taten.

Erfundene Gemeinschaften? Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Benedict Anderson hat den Begriff der „imagined communities“ nach seinem gleichnamigen Buch (auf Deutsch: Die Erfindung der Nation, 1998) geprägt. Ein Begriff, der sich anscheinend immer öfter auf die Europäische Union anwenden lässt.

Mit Blick darauf, wohin dieses gemeinsame Friedensprojekt aktuell steuert, fällt die Uneinigkeit im „geeinten Europa“ auf. Die europäische Solidarität wird insbesondere von Staatsschuldenkrise und der „Flüchtlingskrise“ infrage gestellt. Diese Krisen haben vor allem eins zum Ausdruck gebracht: Wer sich in einer Notlage befindet, sei es innerhalb Europas oder vor den Toren der sogenannten Festung Europa, dem wird keine bedingungslose Solidarität zuteil.

Wer rettet wen in Europa und wenn ja, wie viele?

Seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise 2009 ermöglicht die europäische Solidargemeinschaft die „Rettung“ ganzer Mitgliedsstaaten, wenn diese am finanziellen Abgrund stehen. Die geldgebenden, reichen EU-Staaten verlangen im Gegenzug für ihre Unterstützung einen immerzu ausgeglichenen Staathaushalt und verordnen eisernes Sparen, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Folgen des Spardiktats treffen die südeuropäischen Bevölkerungen hart. So verwundert es nicht, dass dort der Rückhalt dieser Maßnahmen – gelinde gesagt – nicht sonderlich groß ist, doch selbst in Nord- und Osteuropa gibt es keine eindeutige Mehrheit für die auferlegten Sparmaßnahmen, wie eine Umfrage zeigt.

In den betroffenen Gesellschaften selbst wird diese drakonische Sparpolitik als Geißel und Unrecht empfunden. So lag beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit im April 2018 in Italien bei 33 Prozent. Italien zeigt prototypisch, wie die Wählerinnen und Wähler diese Politik an der Wahlurne abstrafen: So ist jüngst aus den italienischen Wahlen eine eurokritische, populistisch-rechtsextreme Regierungskoalition hervorgegangen. Die deutsche Öffentlichkeit reagiert darauf wie sooft: mit ungläubigem Kopfschütteln. Dabei ist die Ursache des Wahlverhaltens doch offenkundig. Europäische Solidarität hätte bedeutet, in ein gemeinsames Europa zu investieren und Solidarität mit den südeuropäischen Staaten und Bevölkerungen zu zeigen. Doch in Deutschland blieb die schwarze Null das Credo der Regierungskoalitionen. Ob Schicksal oder Pech: Retten oder Nicht-Retten, das ist hier die Frage.

Retten als Akt der Solidarität

Retten oder Nicht-Retten, auch diese Frage stellt sich erneut im Fall Italiens. Immer noch geraten vor dessen Küste täglich Menschen auf der Flucht in Seenot oder ertrinken gar. Es ist die Hoffnung auf ein besseres Leben in einem auch mit ihnen solidarischen Europa, die diese Flüchtenden antreibt, die lebensgefährliche Überfahrt zu wagen. Längst aber droht das Mittelmeer nicht nur sie, sondern mit ihnen auch die hoch gepriesene Solidarität zu ertränken. Von „Solidarität der Tat“ sprach der ehemalige französische Außenminister Robert Schuman um 1950 und erklärte sie zum notwendigen Moment des europäischen Vereinigungsprozesses. Abschotten aber kann er nicht damit gemeint haben. Denn Tatsache ist: Die europäische Politik sieht dem Geschehen im Grunde noch immer meist tatenlos zu.

Als Italien – nachdem es viele Jahre von den europäischen Regierungen in der Flüchtlingspolitik allein und im Stich gelassen worden war – das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ ins Leben rief, sank die Sterberate auf dem Mittelmeer rapide. Nach einem Jahr stellte sich Europa die Frage: Vergemeinschaften wir die Seenotrettung? Die Antwort lautete: Nein. Womit Europa scheiterte. Statt sowohl mit Italien wie mit den Flüchtenden solidarisch zu sein, entschieden sich die EU für eine Strategie der Abschottung und Abwehr. Und das, wohlgemerkt, entgegen anerkannter Seemannstradition und internationalem Recht, dass in Not geratenen Menschen die Hilfe nicht verweigert werden darf.

Endlich solidarisch werden

Es ist nicht nur etwas faul in der EU und damit in Europa. Der drohende Untergang Europas samt seiner Solidarität hat Shakespearesche Ausmaße. Aber vielleicht sind wir noch zu retten. Nicht mit solidarischen Reden, sondern durch solidarisches Handeln. Wer das europäische Friedensprojekt ernst nimmt, muss statt wirtschaftlichem Erfolg sozialen und politischen Frieden in den Vordergrund stellen.

Das hieße zunächst für die EU-Mitgliedsstaaten, geschlossen auf aktuelle Herausforderungen zu reagieren, um Solidarität zwischen den Staaten (wieder-)herzustellen. In diese Richtung zielt etwa der Appell von Bundesaußenminister Heiko Maas, die einzige Antwort auf „America first“ könne nur „Europe united“ sein. Es geht um politische Einheit.

Diese Einheit muss natürlich von den Bevölkerungen getragen und an den europäischen Grenzen praktiziert werden. Wird dieser Pfad, die viel beschworene Solidarität nicht nur temporär in die Tat umzusetzen, nicht eingeschlagen, ist der Versuch, Europa zu befrieden, am Ende. Und das wäre nicht weniger als eine weitere Tragödie.

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