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Keine ideale Welt

Von Katharin Tai / 16. September 2015
Foto: Katharin Tai

Zuerst war die Notunterkunft in Moabit nur als temporäre Lösung gedacht. Mittlerweile gibt es sie seit fast einem Jahr – und sie ist nötiger denn je.

Manchmal läuft man aus Versehen an Orten vorbei, zu denen man will. Diese Gefahr besteht auch, wenn man die Notunterkunft für Flüchtlinge der Berliner Stadtmission in Moabit sucht. In der Kruppstraße fährt man über Kopfsteinpflaster, vorbei an einem großen Backsteingebäude auf der einen und der Polizei auf der anderen Seite. Zwischen „Feuerwehrzufahrt!“-Schildern und dem Wegweiser zu einem Tennisverein hängt an einer Einfahrt des Poststadions ein relativ neues Schild, das den Weg zur Notunterkunft anzeigt.

Wer ein ganzes Stück in den bewaldeten Teil des Poststadions hineingeht, sieht links zwei große Traglufthallen auf einem Fußballfeld. Draußen spielen ein paar Männer Federball, ein anderer wirbelt ein Kind durch die Luft, zwei Kinder spielen Fangen, auf einer Bank rauchen zwei Frauen und unterhalten sich.

Man hört viel Arabisch, etwas Türkisch, etwas Russisch, Deutsch, sehr viel Englisch. Nur 15 bis 20 Minuten läuft man von hier zum Landesamt für Gesundheit und Soziales, wo die Erstregistrierung für Flüchtlinge in Berlin stattfindet. Anfang August war das Amt in den Fokus der Medien gerückt, weil zahllose Flüchtlinge in der Sommerhitze mit unzureichender Versorgung darauf warteten, registriert zu werden. Empörung und Hilfsbereitschaft waren groß.

Chaos in der Flüchtlingspolitik

Die Notunterkunft unterstützt das LaGeSo, wie das Amt mittlerweile nur noch genannt wird, aber schon deutlich länger – seit Ende November vergangenen Jahres. „Ursprünglich waren wir für die Leute da, deren Fall am LaGeSo nicht sofort bearbeitet werden konnte“, erklärt Mathias Hamann, der als Co-Leiter für die Unterkunft verantwortlich ist. Zwei, drei Nächte sollten die Menschen dort übernachten, dann registriert sein und nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt werden.

Für diese Funktion ist die Unterkunft dementsprechend auch eingerichtet worden: Es gibt einen Aufenthaltsbereich, eine Spielecke für Kinder, die in der Halle herumtoben, Waschräume, eine Küche, einen Essbereich. In den Zimmern stehen jeweils drei Hochbetten, die von maximal sechs Flüchtlingen bewohnt werden – ein bisschen wie in einer Jugendherberge. „Es gibt überhaupt keine Privatsphäre“, beklagt ein syrischer Flüchtling. Er ist seit einem Monat hier, einen weiteren wird es dauern, bis er seinen Termin im LaGeSo hat.

„Mittlerweile ist Chaos in der Flüchtlingspolitik und es gibt einfach zu wenig Unterkünfte“, sagt Mathias Hamann. Eigentlich sollte die Notunterkunft bereits Ende April geschlossen werden. Bis dahin, so hatte man erwartet, würde es mehr Unterkünfte geben. Drei Wochen vor der geplanten Schließung kam dann die Ansage aus der Politik: Die Notunterkunft bleibt für ein weiteres Jahr. „Auf der einen Seite ist das schön, aber ein bisschen Vorlauf wäre schon gut gewesen“, meint Hamann. „Es ist total spannend, wie nah man an der Politik ist: Manche Sachen müssen anscheinend erst eskalieren, damit etwas passiert.“

Während „draußen“ über Flüchtlingsströme und alle möglichen Probleme berichtet wird, wirkt die Unterkunft in Moabit gar nicht „eskaliert“: In der kleineren von beiden Traglufthallen, in denen nur alleinreisende Männer untergebracht sind, ist es still, in der großen, in der Familien leben, toben Kinder durch die Gänge. An einem Tisch malen einige Kinder zusammen mit Freiwilligen. Zwei Mädchen schauen auf einem Smartphone nach, wie die deutsche Flagge aussieht, und übertragen sie mit Wasserfarben auf ein Stück Papier. An einer Wand neben dem Eingang hängen Bilder von Kindern, die die Unterkunft inzwischen wieder verlassen haben. Auf ihnen sind auch viele Flaggen zu sehen: Afghanistan, Albanien, Pakistan, Kosovo.

Sprachunterricht in der Multikulti-Halle

Im Essbereich wird gerade Deutsch unterrichtet. Die Flüchtlinge in der Notunterkunft haben noch kein Recht auf offizielle Deutschkurse, deswegen ist man auf freiwillige Helfer angewiesen. Insgesamt schätzt Hamann die Zahl der Ehrenamtlichen auf 1.200 bis 1.300. Sie organisieren sich über Mailinglisten und tragen sich in den Dienstplan ein. Mittlerweile kommen jeden Tag drei, vier neue Emails mit Hilfsangeboten. Manche Freiwillige kommen einmal pro Woche vorbei, manche nur einmal alle zwei Monate, je nach dem, was in den eigenen Zeitplan passt.

Majit arbeitet als Medieninformatiker und studiert Wirtschaftsinformatik. Zusätzlich unterrichtet er zwei Mal pro Woche in der Notunterkunft Deutsch, beantwortet Fragen, hilft beim Übersetzen von Dokumenten vom LaGeSo. „In dem Brief steht, dass er morgen wiederkommen soll, aber sie wissen eh, dass sie keine Zeit haben werden.“ Er wirkt etwas frustriert.

Fiona kommt sogar drei Mal pro Woche in der Kruppstraße vorbei. Sie kommt ursprünglich aus Schottland, studiert in Berlin auf Lehramt und müsste eigentlich gerade für ihre Prüfungen lernen. Zwischendurch, oder „zum seelischen Ausgleich“, wie Majit meint, bringt sie Flüchtlingen das lateinische Alphabet und grundlegende Deutschkenntnisse bei. „Ich hatte eigentlich Angst, weil ich auch immer noch Fehler im Deutschen mache, aber die Unterkunft ist ohnehin total Multikulti”, sagt sie. „Die Amtssprachen sind quasi Englisch und Arabisch.“ Letzteres lernt sie jetzt auch.

Innerhalb von knapp einem Jahr ist in der Notunterkunft eine Infrastruktur aufgebaut worden, die weit über die Traglufthallen und Sechs-Bett-Zimmer hinausgeht: Es gibt einen Stamm von Freiwilligen, Deutschlehrer, die sich koordinieren und sich auf die immer länger bleibenden Flüchtlinge einstellen, sowie das 26-köpfige Team um Mathias Hamann und seinen Co-Leiter.

„Wir leben in einer realen Welt“

Ende 2014 waren die Traglufthallen noch stark kritisiert worden, Politiker nannten sie „menschenunwürdig“. Sicher, meint Hamann, in einer idealen Welt gäbe es keine Traglufthallen für Flüchtlinge. „Aber wir leben nun einmal in einer realen Welt.“ In dieser Welt wird die Laufzeit für die Notunterkunft um ein Jahr verlängert, weil diese nötig ist. Gerade weil sie so nah am LaGeSo liegt. Als es die enormen Engpässe am LaGeSo gab, liefen die Mitarbeiter zur Behörde und nahmen nach kurzer Absprache so viele Flüchtlinge mit, wie sie aufnehmen konnten. Die Zeit, um sie offiziell in die Kruppstraße zu schicken, fehlte einfach.

„Es ist jetzt nicht so, dass alle Behördenmitarbeiter doof sind“, stellt Mathias Hamann klar. „Ich habe schon samstags um Mitternacht mit Mitarbeitern telefoniert, um zu klären, wie wir das Wochenende organisieren.“ Mittlerweile gibt es noch fünfzig zusätzliche Betten um die Ecke, eine Notunterkunft für die Notunterkunft sozusagen. Als Züge aus Budapest kamen, hieß es, dass die Flüchtlinge vielleicht in Moabit unterkommen würden – letztendlich kam niemand. Zwei Wochen später wurden ein Wochenende lang Nachtschichten geschoben, um Flüchtlinge aus München unterzubringen. Für die Flüchtlinge, die abends immer später vom LaGeSo in die Unterkunft kommen, bleiben die Freiwilligen ein paar Stunden länger da, um Essen auszugeben.

Vielleicht ändert sich die Situation jedoch bald komplett, weil die Notunterkunft eine neue Funktion bekommen könnte. Alles ist andauernd im Wandel: die Regeln und die Menschen. An die 16.000 Flüchtlinge sind seit dem 28. November 2014 in der Kruppstraße untergekommen, manche für eine Nacht, andere für zwei, drei Monate. Immer wieder wird improvisiert, aber es scheint zu funktionieren.

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