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Leben im Müll

Von Tim Bredtmann / 24. Juli 2019
Credit: Tim Bredtmann

Symbole für soziale Ungleichheit gibt es viele. In Manila muss ein unvorstellbar großer Müllberg dafür herhalten.

„Padating na sa Blumentritt, arriving at Blumentritt!“, schallt aus den Lautsprechern der Metro in Manila. Wer an dieser Station aussteigt, will oft nach Tondo. So wie ich. Tondo liegt im Hafen Manilas, der Hauptstadt der Philippinen, und ist der ärmste Stadtteil der Metropole.

Haut an Haut stehe ich zwischen den Arbeiter_innen in der klimatisierten, aber völlig überfüllten Bahn. Mein Ziel ist der „Smokey Mountain“. Eine riesige Müllhalde, umgeben von informellen Siedlungen. In Tondo wohnen offiziellen Angaben zufolge etwa 600.000 Menschen.

Eine große Betontreppe führt vom Bahnsteig hinab auf die hektischen Straßen Tondos. Motorräder, Busse und bunte Kleinbusse, sogenannte Jeepneys, hupen in einer drückenden Hitze um die Wette. Ihre Abgase lassen einen nur schwer Luft holen. Straßenhändler_innen verkaufen alles, was man sich vorstellen kann – und darüber hinaus: grün, blau oder rot gefärbte Küken und halb ausgebrütete Enteneier. Balut heißen diese Eier, die besonders gern am Abend verspeist werden. Ich dränge mich in einen Jeepney, der weder Katalysator, noch Schalldämpfer hat. Jeepneys sind laut, dreckig – und billig. Knapp 20 Minuten lang manövriert der Fahrer seine Passagiere durch Siedlungen, die zum Teil nichts weiter sind als Slums.

Wir fahren vorbei an dutzenden Sari-Sari Stores (kleine Kioske), deren Waren in den Fenster hängen. Kaffee, Waschmittel, Schokoriegel, Muffins, Limonade – alles ist einzeln in Plastik verpackt. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, die Ursache für den Müllberg bereits zu kennen. Zwischen Hütten aus Blech, Plastikplanen und Holz, von denen manche über mehrere Etagen verfügen, weht frische Wäsche im Wind. Ein Wind, der vor einigen Jahren regelrecht verseucht gewesen ist. Der Smokey Mountain verdankt seinen Namen dem anhaltenden Rauch, der ihn immer wieder umgab, verursacht durch spontane Brände der zum Teil chemischen und giftigen Abfälle.

Müll als Einkommensquelle

Am Smokey Mountainangekommen, bietet sich mir ein surreales Bild: Abfall türmt sich bis zu vierzig Meter in die Höhe. Dabei ist die Müllkippe seit ungefähr 25 Jahren eigentlich stillgelegt. Zwischen Schutt und Erde ragen Fetzen aus Plastik aus dem Berg. Menschen wuseln darin herum, sammeln und sortieren Abfälle, um daraus ein wenig Geld zu machen. Müll hier ist Lebensgrundlage. Auf dem Berg selbst leben auch einige Menschen und bauen in geringem Umfang sogar Gemüse dort an, das sie selbst essen oder verkaufen.

Blick in den Berg (Foto: Tim Bredtmann)

In südlicher Richtung entdecke ich eine Vorschule, die von einer NGO betrieben wird. Freiwillige und Lehrer_innen haben inmitten all der Trostlosigkeit einen schönen Ort zum Lernen geschaffen. Der Unterricht wird allerdings oft gestört. Am Flussufer unter den Klassenfenstern brennen immer wieder Abfälle, um Metalle aus Kabeln und Drähten zu gewinnen. Giftiger Qualm steigt so hinauf in die Schule und wird von den Vorschüler_innen ungefiltert eingeatmet. Dabei ist das Flussufer kaum zu sehen, da sich auch hier Siedlungsgebäude auf Stelzen darüber erheben.

Sortierter Abfall aus dem Smokey Mountain (Foto: Tim Bredtmann)

Die philippinische Regierung hat mehrfach versucht, die Menschen aus Tondo zu vertreiben. Mit Bulldozern und Polizeigewalt wurde das Gebiet 1995 schließlich offiziell zwangsgeräumt. Tausende verloren dabei ihr Zuhause und so auch ihre Einkommensquelle. Das Müllproblem war damit aber nicht gelöst, sondern verschob sich in nordöstliche Richtung. Fortan war die neue Anlaufstelle für Müll die erweiterte Deponie in Payatas, einem Bezirk in Quezon City; „Smokey Mountain II“ ist bis heute aktiv, obwohl der Berg im Jahr 2000 einstürzte und hunderte Menschen unter sich begrub.

Arm durch Ungleichheit

Die Müllberge sind weniger ein „Symbol der Armut“ im Land, wie viele Medien schreiben, als vielmehr ein unübersehbares Symbol der Ungleichheit. Seit Jahrzehnten strömt die Landbevölkerung nach Manila und landet in Tondo oder einem anderen Slum. Sie tut das in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Was sie vorfindet, sind jedoch vor allem durch Zäune, Wachpersonal und Mauern unzugängliche Räume. Weite Teile von Manilas Grund und Boden befinden sich im Besitz weniger Familien, die gigantische Malls und Hochhauskomplexe mit Luxuswohnungen bauen lassen inmitten dieser bereits überfüllten Stadt. Wer es sich leisten kann, lebt in einer Gated Community – einer umzäunten, von Kameras bewachten Nachbarschaft. Alle anderen, ohne Geld, leben dort, wo Erde abrutschen kann, Flüsse übertreten oder giftige Gase in die Nase steigen. Erst 2017 zerstörte ein Brand in Tondo die Wohnräume von über 3.000 Menschen, die sowieso schon gebeutelt waren: Als ich 2013 das erste Mal für sechs Monate in Manila lebte, wurde die Nothilfe zur Regenzeit zu einem Dauerzustand.

Wohnen im Berg (Foto: Tim Bredtmann)

Krieg gegen Arme und Oppositionelle

Aktivist_innen berichten mir, dass auch heute gute Arbeit, anständige Wohnungen, Frieden und Sicherheit zu den drängendsten Problemen der Menschen gehören. Strukturelle Probleme also, die durch entsetzliche Ungleichheit fortbestehen. Darunter fallen auch außergerichtliche Hinrichtungen, die in erschreckender Regelmäßigkeit ausgeführt werden, seit Präsident Rodrigo Duterte 2016 dem Drogengeschäft auf den Philippinen den Krieg erklärte. Tatsächlich trifft diese Politik aber meistens nicht die organisierte Kriminalität im Land, sondern die Menschen in den Slums. Je nach Quelle sollen seit 2016 bis zu 30.000 Menschen umgebracht worden sein. Es sind Polizeieinheiten und Auftragskiller, die vermeintliche Kriminelle und Drogensüchtige töten. Ihre Leichen werden in Tape eingewickelt und mit einem Schild als Drogendealer markiert: Pusher ako – Ich bin ein Pusher. Und dann wie Abfall entsorgt.

Der Smokey Mountain – nichts als eine ehemalige Mülldeponie? Er ist vielmehr die offene Wunde einer Gesellschaft, die den Umgang mit ihren verwundbarsten Mitgliedern preisgibt.

(2015 war Tim Bredtmann zuletzt selbst vor Ort und hat für diesen Beitrag mit Freund_innen aus Manila gesprochen.)

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