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Nicht mein Präsident!

Von Christian Stahl / 12. März 2012
picture alliance/dpa | Christophe Gateau

Das meint er doch nicht so. Das hat er gar nicht gesagt. Das ist aus dem Kontext gerissen und war in Wirklichkeit ganz anders. Diese Sätze höre ich – im Wortlaut – immer wieder,  wenn es um Joachim Gauck und seine Aussagen zu Sarrazin, Einwanderung und Integration geht. Schön wäre es, wenn die Verteidigungssätze stimmen […]

Das meint er doch nicht so.
Das hat er gar nicht gesagt.
Das ist aus dem Kontext gerissen und war in Wirklichkeit ganz anders.

Diese Sätze höre ich – im Wortlaut – immer wieder,  wenn es um Joachim Gauck und seine Aussagen zu Sarrazin, Einwanderung und Integration geht.

Schön wäre es, wenn die Verteidigungssätze stimmen würden. Aber sie stimmen nicht.

Joachim Gauck hat Sarrazin „Mut“ bescheinigt und dessen „Offenheit“ gelobt, „Integrationsprobleme“ ohne politische Korrektheit anzusprechen. Gauck hat das im Tagesspiegel gesagt, in der Süddeutschen, bei Beckmann und in der NZZ. Er hat es überall gesagt. Joachim Gauck hat auch gesagt, dass Sarrazin „genauer differenzieren“ müsse und, dass er, Gauck, das Buch gar nicht gelesen habe.

Was ändert das aber am Wesen der Aussage?
Was ist an Sarrazins Hetzschrift „Deutschland schafft sich ab“ mutig?

„Wenn Deutschland überfremdet wird“
Wie kann man solche Sätze anders meinen? Das Netz vergisst Gott sei Dank nicht. Jede und jeder kann nachlesen und auf YouTube nachschauen, was unser mutmaßlicher neuer Bundespräsident gesagt und nicht gesagt hat. Im Oktober 2010 hat er sich in NZZ TV zum Thema „Über­fremdung“ und „Islam und Deutschland“ geäußert.

Hier ein kleiner Ausschnitt:

NZZ TV: Bundespräsident Wulff hat zum Tag der deutschen Einheit gesagt, der Islam gehöre zu Deutschland. Hätten Sie das in dieser Funktion so auch gesagt?

Joachim Gauck: Also, das ist ein Problem der Wortwahl. Ich weiß, was er meint, und ich denke, dass er in dieser Beschreibung etwas, was irgendwann einmal sein wird, vorgezogen hat. Denn wir würden uns eigentlich nicht helfen, wenn wir Fremdheit und Distanziertheit übersehen würden in der guten Absicht, ein einladendes Land zu sein. Diese gute Absicht ist ja lobenswert, aber wir haben doch ganz andere Traditionen, und die Menschen in Europa, das sehen wir allüberall, nicht nur in Deutschland, sind allergisch, wenn sie das Gefühl haben, dass was auf dem Boden der europäischen Aufklärung und auch auf dem religiösen Boden Europas gewachsen ist, wenn das überfremdet wird, um einen Begriff zu verwenden, der in Deutschland verpönt ist, aber ich verwende ihn hier ganz bewusst …“

(Für Kontext-Freunde hier der komplette Ausschnitt)

Ja, aber das stimmt doch alles!  – werden Gauck-Freunde jetzt rufen. Viele Menschen empfinden doch Fremdheit. Nur weil das nicht schön ist, ist es doch nicht falsch. Das muss man doch mal beim Namen nennen dürfen.

Stimmt.

Aber Joachim Gauck spricht nicht von der Fremdheit. Er spricht ganz bewusst vom Gefühl der „ÜBER-Fremdung“, für das er auch noch „großes Verständnis“ zeigt.

Zweitens ist Fremdheit für Joachim Gauck in allen Interviews ein Einbahnstraßenbegriff.
„Wir“ Deutschen.  „Die“ Fremden.

Kein Wort darüber, dass viele hier lebende Menschen mit nichtdeutschen Großeltern erst zu Fremden gemacht wurden. Dass sie „Kanaken“ blieben, egal, ob sie hier geboren wurden, ob sie sich als Deutsche fühlen oder nicht. Kein Wort über Stigmatisierungen, Pöbeleien und Diskrimi­nierungen, die beschämender Alltag sind, wenn man in Deutschland zum Beispiel einen türkischen oder arabischen Nachnamen hat. Ein Phänomen, das leider nicht nur in ‚rechten Milieus’ vorkommt. Auch in deutschen Primetime News galt ein Fatih Akin bis zum Gewinn der Berlinale als „türkischer Regisseur“; und erst durch das Ballhaus Naunynstraße, das ausnahmslos „postmigrantische“ Talente fördert, werden Regisseure wie Nurkan Erpulat als deutsche Regisseure wahrgenommen. Beim deutschen Theatertreffen sorgte Erpulat letztes Jahr für Furore. Vor dem Ballhaus war Erpulat Aufnahmeleitungsassistent bei radio multikulti, das inzwischen auch abgeschafft wurde. Natürlich in der türkischen Redaktion.

Echte Deutsche
Ja, das sind nur Beispiele. Aber Beispiele, die sehr vielen Menschen in Deutschland vertraut sind. Und sehr vielen der deutschen Muslime vertraut sind, die für die gerade erschienene und viel diskutierte Integrations-Studie des deutschen Innenministeriums interviewt wurden.

Peter Holtz, einer der Autoren, stellt im Spiegel fest:

„In Gruppendiskussionen mit 56 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und in vielen persönlichen Gesprächen erhielt ich einen Einblick in Welten, die für mich bisher verschlossen waren. Besonders bewegt hat mich die Reaktion eines älteren Vertreters der „Gastarbeiter­generation“, der mich gefragt hat, warum wir nicht 20 oder 30 Jahre früher gekommen sind. Er war fast zu Tränen gerührt, dass sich nun endlich jemand für seine Geschichte, seine Gefühle, seine Sicht der Dinge interessiert.“

Die Geschichten, die Gefühle, die Sicht der Dinge derer, die eingewandert sind. In welcher seiner vielen Aussagen und Interviews zum Thema Integration geht Joachim Gauck darauf ein?

Und warum stellt sich Joachim Gauck nicht die Fragen, die sich zum Beispiel der Integrationsforscher Peter Holtz stellt? Warum so viele Menschen sich nicht als „echte Deutsche“ fühlen können? Warum viele hier geborene junge Muslime ins Heimatland ihrer Eltern zurückkehren wollen?

Fremde Tugenden
Das ist, drittens, das problematischste an Joachim Gaucks Thesen zur Integration.

Er reduziert knapp 4 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, auf ein einziges Stigma. Muslimisch = fremd = integrationsunwillig. Wie der rechte Boulevard rührt er alles zu einer stammtischtauglichen Sauce zusammen: Integrationsprobleme sind grundsätzlich muslimisch. Soziale Probleme, Bildungsdefizite, Ghettoisierung, Kriminalität, die es ohne Frage in hohem Maße in Einwandererfamilien gibt, werden zum Problem von „fremder“ Kultur und „fremder“ Religion  verfälscht. Wer schon einmal in den Armenvierteln der Türkei oder den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon war, weiß, wie sehr die angeblich so fremde Kultur Tugenden hochhält, die jemand wie Joachim Gauck zu „deutschen“ Tugenden stilisieren würde. Ordnung, Disziplin und Bildung, Bildung, Bildung.

Und die „Asozialen“, die „Bildungsversager“ und die „Kriminellen“ dieser Republik haben in Deutschland versagt, in Deutschland die Schule geschwänzt und sind in Deutschland kriminell geworden. Unsere Problemkinder sind deutsche Problemkinder.

Aber Joachim Gauck bezeichnet Menschen auch dann noch als „Fremde“, wenn sie seit einem halben Jahrhundert Teil der deutschen De facto-Einwanderungsgesellschaft sind. Sie leben in zweiter, dritter, teilweise schon vierter Generation hier. Sie sind in Deutschland geboren, in Deutschland groß geworden, haben in Deutschland geheiratet und in Deutschland Kinder gezeugt, die in Deutschland zur Welt kommen.

Was fehlt diesen „Fremden“ denn bitte schön zum Deutsch-Sein? „Deutsches“ Blut? Wann hört denn der Fremde auf, fremd zu sein? Wann ist der Migrant kein Migrant mehr?

Den Thürken Mosqueen bauen
Joachim Gauck bemüht ganz bewusst die angebliche kulturelle und historische Distanz.

„ …aber wir haben doch ganz andere Traditionen, und die Menschen in Europa, das sehen wir allüberall, nicht nur in Deutschland, sind allergisch, wenn sie das Gefühl haben, dass was auf dem Boden der europäischen Aufklärung und auch auf dem religiösen Boden Europas gewachsen ist, wenn das überfremdet wird …“

Genau wie CSU-Innenminister Friedrich begeht Gauck einen historischen Fehler und reduziert deutsche Geschichte auf die Zeit nach 1945. Der Islam wurde hierzulande aber schon im 18. Jahrhundert als Bereicherung und nicht als Bedrohung empfunden. Friedrich der Große versprach sogar, den „Thürken Mosqeen zu bauen“, wenn sie nur „kähmen und wollten das Lans Pöpliren.“

Man stelle sich diesen Satz vor, gesagt am 18. März 2012 vom deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Unvorstellbar? Ja, leider.

Und, weiter gefragt, warum war die preußischen Einwanderungspolitik 1750 weiter als wir es heute sind? Wer ist in Wahrheit Integrationsverweigerer? „Die da“ oder wir, die deutsche Gesellschaft?

Die von Joachim Gauck und anderen immer wieder aufgestellte Behauptung, der Islam sei eine fremde und uneuropäische Kultur ist ebenso ahistorischer Unfug wie die immer wieder unsinnige Behauptung, Humanismus und Demokratie seien die einzigen Erben der Aufklärung. Die Aufklärung endete mindestens ebenso unter der Guillotine und in Robespierres staatlichem „terreur“ wie im Totalitarismus des Dritten Reiches. Horkheimer und Adorno lassen grüßen.

Gaucks schöne integrationsunwillige Migrantenwelt lässt sich dagegen in eine einfache binäre Opposition pressen: WIR hier, die Investmentbanker der europäischen Traditionen, die wir die Wertpapiere der Aufklärung und der Reformation besitzen.
Und IHR da, die ihr den fremden Islam (ohne Reformation und Aufklärung – ergo – Mittelalter) lebt.

Jubel von ultrarechts
Kein Wunder, dass Edmund Stoiber auf dem politischen Aschermittwoch der CSU frohlockte: „Was soll ich denn eigentlich gegen diesen Mann einwenden? Er hat doch unsere Positionen.“ Gauck habe für Sarrazin “ein gutes Wort gefunden” und sei gegen den EU-Beitritt der Türkei. Und das am Vortag der Gedenkfeier für die Opfer des Neonaziterrors.

Ist Joachim Gauck ein Ausländerhasser? Nein, ist er nicht. Aber er pflügt mit seinen Aussagen den pseudointellektuellen Nährboden, auf dem ultrarechte Klischees und plumper Ausländerhass sehr gut gedeihen.

Und die Rechten jubeln.

„Wir sind Präsident“ titelte die Lieblingspostille moderner Neonazis, die Junge Freiheit, am 24. Februar. Denn, so das ultrarechte Blatt: „Im Gegensatz zu den Worthülsen von der „bunten Republik“, mit denen Wulff die drängenden Probleme der Zuwanderung und Integration von Ausländern verharmloste, sind von Gauck nüchterne Äußerungen bekannt und er appellierte wiederholt an die Politik, die Sorgen der Bürger ernst zu nehmen.“

Natürlich, auch ein Joachim Gauck kann sich nicht aussuchen, wer ihn zitiert und ihm zujubelt.
Es gibt aber einen Grund, warum die Ultrarechten jubeln. In all seinen Aussagen schwingt etwas mit. Ein elitäres, erzkonservatives und ausgrenzendes Gesellschaftsbild, in der die Schwachen und die Minderheiten an ihrem Schicksal selbst Schuld haben. Genau wie Thilo Sarrazin kennt Herr Gauck weder Neukölln noch die vielen Neuköllns der Republik. Ohne die beiden Herren in einen Topf zu werfen: Beide maßen sich Urteile an über etwas, das sie nicht kennen. Und ganz offensichtlich auch gar nicht kennenlernen wollen.

Deutsch = dem Volke zugehörig
Die eingewanderte, neue deutsche Seele ist durch Joachim Gaucks Aussagen schon jetzt tief verletzt, wo er noch nicht einmal Bundespräsident ist. Und Christian Wulffs Satz vom Islam, der zu Deutschland gehört, bleibt erst recht unvergessen.

Mit Deutsch meine ich übrigens alle in Deutschland lebenden Menschen, so wie es die ursprüngliche Bedeutung des Volksnamen „Deutsch“ gemeint hat. Deutsch ist eben keine ethnische Bezeichnung eines Volksstammes, sondern stammt vom althhochdeutschen Adjektiv „theodisk“: dem Volke zugehörig.

Das wäre dann auch die wahrhaft konservative Auslegung deutschen Nationalgefühls: Alle, die hier sind, gehören dazu.

Punkt.

Zum Schluss, sehr verehrter zukünftiger Herr Bundespräsident, noch eine Anmerkung zur Freiheit. Sollte Sie dieses Thema nicht nur im Rückblick auf die DDR interessieren, dann setzen Sie sich doch bitte für die Freiheit der Abertausenden von Flüchtlingen in Deutschland ein, allein in Berlin sind es ca. 5000, die nur „geduldet“ sind und zum Teil seit Jahrzehnten nicht arbeiten, nicht studieren und nicht einmal den ihnen zugewiesenen Landkreis verlassen dürfen, ohne damit eine Straftat (!) zu begehen.
Damit würden Sie etwas für Deutschland tun.

Und damit würden Sie vielleicht doch noch auch mein Präsident werden können.

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