DebatteBietet die Gesellschaft genug berufliche Vielfalt?
Das Handwerk sucht händeringend qualifiziertes Personal, während die Universitäten weiter Zulauf bekommen. Doch was hat es wirklich mit dem Fachkräftemangel auf sich und braucht man in Deutschland ein Studium, um beruflich voranzukommen?
Die LKW stehen still, in der Pflege sammeln sich die Überstunden, schneller als die mittlerweile sprichwörtliche Stechuhr sie zu zählen vermag, und in der Industrie warten Roboter auf Menschen, die ihnen sagen, was sie zu tun haben. Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man in einer Suchmaschine den Begriff „Fachkräftemangel“ eingibt. Doch ist die Lage tatsächlich so ernst?
Im Fachkräftereport der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) aus dem vergangenen Jahr klagen 53 Prozent der 22.000 teilnehmenden Unternehmen darüber, dass sie längerfristig Probleme damit haben, offene Stellen zu besetzen. Es fehle, so die befragten Arbeitgeber, an geeigneten Arbeitskräften. Am schlimmsten von dieser Entwicklung betroffen seien das Baugewerbe und die Industrie, heißt es. Im Bereich des Handels und der Dienstleistungsbetriebe sähe die Lage nicht viel besser aus.
Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der DIHK Dr. Achim Dercks mahnt öffentlich: „Die derzeit noch stabile Arbeitsmarktentwicklung und die vielen offenen Stellen dürfen nicht zu dem Fehlschluss verleiten, alles laufe relativ rund und den meisten Unternehmen gehe es gut. Unter der Oberfläche braut sich seit geraumer Zeit eine gefährliche Mischung zusammen.“
Wo sind denn alle?
Fehlt es also eklatant an Kräften mit hoher Fachkenntnis, könnte man meinen, dass sich die Hochschulen kaum mehr vor Anfragen retten können. Beim Blick auf die Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) zeigt sich jedoch, dass die Studienanfängerzahlen seit 2017 leicht rückläufig sind. Die KMK rechnet einem Prognosebericht aus dem vorletzten Jahr zufolge sogar damit, dass zumindest bis 2030 kein nennenswerter Anstieg mehr zu erwarten sei.
Zwar lichten sich die Reihen in den Hörsälen noch nicht merklich, aber der statistische Peak scheint erreicht zu sein. Nicht zuletzt, da die geburtenstarken Jahrgänge der Vergangenheit angehören. Wie geht es aber zusammen, dass die Zahl der Azubis immer weiter sinkt und bei den Unis die Lage unverändert bleibt?
Alle kennen ihn, noch mehr fürchten ihn: den demographischen Wandel. Es gibt weniger Berufseinsteiger*innen, weil die Anzahl junger Menschen hierzulande abnimmt. Die Bevölkerung wird im Schnitt älter. Die Folge ist, dass die Älteren in den Ruhestand eintreten, aber niemand da ist, der die freigewordene Stelle füllt.
Was die Jugend will
Für junge Arbeitnehmer*innen müsste dieser Zustand ein Paradies der Wahlfreiheit bedeuten: Die Konkurrenz unter den Bewerber*innen sinkt zunehmend, während die Nachfrage nach Arbeitskräften gleich bleibt. Wenn die nachfolgenden Generationen also beruflich die freie (Aus-)Wahl haben – wofür entscheiden sie sich aktuell und aus welchen Gründen?
Die Universität Konstanz unternahm im Jahr 2016 dazu eine Umfrage unter ihren Studierenden. Die Perspektive auf einen besonders interessanten Job motivierte demnach rund 75 Prozent für die Aufnahme eines Studiums. Mehr als die Hälfte erwartete sich durch ein Studium ein gutes Einkommen, auf besonderes Prestige hoffte immerhin fast ein Drittel.
Diese Ergebnisse sind bemerkenswert, wenn man bedenkt, was Ausbildungsberufe bieten können. Davon gibt es in Deutschland hunderte, die den Zugang zu vielfältigen Berufen ermöglichen. Im Gegensatz zu einem Studium wird man während der Zeit als Azubi sogar entlohnt, wenn auch häufig eher schlecht als recht.
Entscheidung schwer gemacht
Was dann im Berufsleben durchschnittlich pro Monat auf dem Konto landet, unterscheidet sich aber deutlich. Die Bundesagentur für Arbeit hat 2021 ermittelt, was wohl niemanden überraschen wird: Akademiker*innen werden in der Regel (noch immer) besser bezahlt. Diese Feststellung bleibt jedoch unvollständig ohne den Hinweis, dass nicht jede akademische Tätigkeit mit einer besseren Vergütung gleichgesetzt werden kann. Besonders hoch dotierte Jobs wie die in der Ärzte- oder Anwaltschaft verzerren die Statistik.
Trotzdem lassen sich Trends erkennen. Der Fachkräftemangel belastet die hiesige Wirtschaft. Berufsanfänger*innen können von diesen Verhältnissen aber profitieren. In vielen Branchen werden sie immer dringlicher gesucht, wodurch sich auch Verhandlungsspielraum beim Gehalt ergeben kann.
Durch die Möglichkeit, sich selbstbestimmt unter zahlreichen Angeboten für die richtige Ausbildung, den richtigen Beruf zu entscheiden – was aber auch heißt: entscheiden zu müssen – lastet auf den Schulabsolvent*innen eine enorme Verantwortung. Kurz mal mit der „richtigen Berufswahl“ die eigene Berufsbiografie und Arbeitswelt retten, wie manche branchenspezifische PR-Kampagne suggeriert, gilt vielen mittlerweile als illusorisches Versprechen.