DebatteIndividuell oder gemeinsam?
In Zeiten menschlicher Katastrophen suchen wir Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Die Rollen, die wir in dieser Gemeinschaft übernehmen, können sehr unterschiedlich sein. Und es stellt sich die Frage, sind wir oft nur das Produkt der Gesellschaft, in der wir leben?
Die familiäre Gemeinschaft
Laut dem Duden geht es in einer Gemeinschaft um „das Zusammensein, -leben in gegenseitiger Verbundenheit“. Diese Definition basiert auf dem individuell empfundenen Zusammengehören um des Zusammenseins Willen, welches unter anderem Martin Stengel, Mitgründer des Ökodorfs Sieben Linden, in einem Artikel beschreibt. Für Stengel ist die Grundform der Gemeinschaft die Familie. „Hier lebt der Mensch ganz selbstverständlich in und für die Gemeinschaft und diese fühlt sich für das Wohl jedes ihrer natürlichen Mitglieder verantwortlich“, schreibt Stengel.
Eine weitere Duden-Definition von Gemeinschaft ist eine „Gruppe von Personen, die durch gemeinsame Anschauungen o.Ä. untereinander verbunden sind“. Menschen finden in dieser Gemeinschaft bewusst zusammen, es geht also nicht ausschließlich um emotionale Verbindungen. Außerdem kann eine Gemeinschaft laut Duden ein „Bündnis zusammengeschlossener Staaten, die ein gemeinsames wirtschaftliches und politisches Ziel verfolgen“, sein. Dazu gehören die EU, die UN und die Nato.
Das Individuum ist also ein aktiver Bestandteil der Gemeinschaft. Es kann darauf bauen, dass seine Grundwerte im Einverständnis der anderen Gemeinschaftsmitglieder hochgehalten werden.
Die anonyme Gesellschaft
Die Gesellschaft hingegen ist anonymer. Die einzelnen Mitglieder sind sich nicht notwendigerweise nahe, sondern durch ein gemeinsames Merkmal wie durch die alleinige Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft miteinander verbunden. So definiert der Duden die Gesellschaft als „Gesamtheit der Menschen, die zusammen unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen leben“.
Laut dem Soziologen Armin Nassehi sind die Mitglieder einer Gesellschaft sich darüber einig, in einer Gesellschaft zu leben und treten aus diesem Grunde auf einem direkten oder indirekten Weg miteinander in Kontakt, um die Gesellschaft mitzugestalten. Als Teil der Gesellschaft werden wir auch zum Produkt dieser, denn im wechselseitigen Austausch werden wir beeinflusst und beeinflussen.
Anders als Gemeinschaften bedürfen Gesellschaften keiner emotionalen Verbindung, weshalb gemäß Nassehi Menschen verschiedener Ursprünge eine Gesellschaft bilden können. „Diese Stimmen erheben dabei den Anspruch, ernst genommen zu werden, und zwar nicht nur dadurch, dass sie sich auf die Vernunft, sondern auch dadurch, dass sie sich auf ihre Herkunft, ihre Tradition, ihre Religion oder ihre Kultur berufen.“
Ein Chamäleon: die internationale Gemeinschaft
Über Gesellschaft und Gemeinschaft hinaus geht der Begriff der internationalen Gemeinschaft. Er hätte laut dem Journalisten Jan Schulz-Ojala einen eigenen Wikipediaeintrag verdient. Die eher anonymen Begriffe Zivilgesellschaft und Völkergemeinschaft seien keine Synonyme der internationalen Gemeinschaft, da wir selbst diese internationale Gemeinschaft seien und damit auch Verantwortung tragen müssten, so Schulz-Ojala. Er stützt sich in seiner Argumentation auf einen Aufsatz des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan, der die internationale Gemeinschaft als eine Art Schicksalsgemeinschaft beschreibt: Aufgrund der Globalisierung betreffen alle Vorgänge alle Menschen.
Wird in Syrien eine weitere Stadt zerstört, suchen die Menschen Schutz in anderen Städten und Ländern und die dort lebenden Bürger sehen sich mit den Dazugekommenen konfrontiert. Je nach Konflikt und dessen Verlauf formieren sich dabei die Protagonisten der internationalen Gemeinschaft neu. Diese Anpassung an den jeweiligen Status Quo bezeichnet Schriftsteller Jochen Schimmang als Chamäleoneigenschaft wobei er anders als Annan eher die politischen Entscheidungsträger im Blick hat als die Staatenbewohner.
Das Individuum: Der Grundbaustein einer jeden Gemeinschaft
Es sind die einzelnen Handelnden, welche die Gemeinschaft formieren. Sie nehmen aktiv an ihr Teil und geben ihr dadurch ein Gesicht. Was ist nun aber, wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft sich den Anderen nicht (mehr) nahe fühlen, weil entweder die Gemeinschaft das Individuum ausschließt, oder das Individuum sich nicht (mehr) mit der Gemeinschaft identifizieren kann?
Wenn sich ein Individuum durch Fremdbestimmung, Charakterzuschreibungen von außen oder gemeinschaftsinterne Regeln gefangen fühlt, sehnt es sich danach, sich in einer anderen Gemeinschaft frei zu fühlen. Es wird also versuchen, eine andere Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu bilden. Die dort herrschenden Regeln, fremdbestimmenden Einflüsse oder Charakterzuschreibungen durch Andere wird diese Person nicht als freiheitsraubend empfinden, da sie in ihrem Sinne sind.
Das zeigt, wie fließend die Grenze zwischen Gemeinschaft und Individuum ist. Daraus resultiert die von Annan und Stengel angesprochene Verantwortung für die Gemeinschaft. Jedem Menschen obliegt es, sich aktiv in seine Gemeinschaft einzubringen, um diese für sich selbst lebenswert zu machen. Er ist das Produkt einer Gemeinschaft, kann aber auch selbst die Basis dafür produzieren.
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