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DebatteWertewandel und neue Bewegungen

Von Jonas Jordan / 8. Juli 2016
picture-alliance/ dpa | Marcus Brandt

Parteien verlieren dramatisch an Mitgliedern, Vereine lösen sich auf, weil niemand mehr ein Vorstandsamt übernehmen möchte. Hat unsere westliche Wertegemeinschaft an Gemeinsinn verloren?

Noch vor einigen Jahrzehnten blühte die Vereinslandschaft überall in (West-)Deutschland. Elf Freunde müsst ihr sein, hieß das Credo beim 1954er-Fußball-Weltmeistertrainer Sepp Herberger. Sieben „Freunde“, so schreibt das deutsche Vereinsrecht vor, müssen es sein, um einen Verein zu gründen. Kein Problem für Angel-, Schach- oder Schützenvereine, die landauf, landab ihren Gemeinsinn pflegten.

Auch die politische Landschaft war durch Übersichtlichkeit geprägt. Im Bundestag waren drei Fraktionen, SPD, CDU/CSU und FDP, vertreten, die wechselweise miteinander koalierten. Die Volksparteien erlebten in dieser Phase des gesellschaftlichen Wohlstands im Nachkriegsdeutschland ihre Hochzeit. So erreichte die SPD Mitte der 1970er Jahre unter Bundeskanzler Willy Brandt ihren Höchststand mit mehr als einer Million Mitgliedern.

Inzwischen geht die Mitgliederzahl sogenannter Volksparteien zurück, und mit ihr der gesamtgesellschaftliche Gemeinsinn. Das ist das Ergebnis einer Studie zur sozialen Lage in Deutschland, die der Paritätische Gesamtverband kürzlich vorgestellt hat. Laut dieser schwäche die zunehmende soziale Ungleichheit den Zusammenhalt im Land und bewirke einen Rückgang des Gemeinsinns.

Wie wichtig Gemeinsinn und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind, sieht man dort, wo er bröckelt. Denn mit dem steigenden Gefälle zwischen Arm und Reich schwindet laut der Studie das Vertrauen in Fairness und soziale Sicherheit. Ausländerfeindlichkeit trete an die Stelle von Hilfsbereitschaft, Egoismen verdrängten den Gemeinsinn. Die Neigung, extremistische oder rechtspopulistische Parteien zu wählen, steigt, etablierte Parteien verlieren an Zustimmung.

Der Pfarrer bestimmt die Wahlabsicht

Welche Partei von welchen gesellschaftlichen Gruppierungen gewählt wurde, war in der Zeit relativen Wohlstands nach dem Zweiten Weltkrieg leicht zuzuordnen. Arbeiter in den Städten wählten zum großen Teil SPD, Katholiken auf dem Land vielfach CDU oder in Bayern entsprechend die CSU. Der Pfarrer empfahl sonntagmorgens in der Predigt, CDU zu wählen, während Gewerkschafter drängten, das Kreuz bei der SPD zu machen. Dieses Modell der Wählermobilisierung war bis in die 1990er Jahre erfolgreich.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Seymour Martin Lipset und sein norwegischer Kollege Stein Rokkan erklärten dieses Wahlverhalten mit ihrer 1967 veröffentlichten Cleavage-Theorie. Demnach entscheiden sich Wähler für diejenige Partei, die ihrem idealen Politikbild am nächsten kommt. Dauerhafte gesellschaftliche Konfliktlinien liegen vor, wenn die Wähler immer wieder in die gleichen Gruppen von Befürwortern und Gegnern zerfallen. Eine Konfliktlinie kennzeichnet dabei einen Interessen- oder Wertgegensatz (eine Kluft, Englisch cleavage). Beispielhaft hierfür sind die Konfliktlinien zwischen Stadt und Land, Arbeit und Kapital oder Kirche und Staat.

Neue gesellschaftliche Konfliktlinien entstehen

Nach Meinung vieler Politikwissenschaftler haben klassische, das Wahlverhalten beeinflussende Konfliktlinien – wie jene zwischen starken und weniger starken religiösen Überzeugungen oder zwischen Arbeitern und Angestellten – zunehmend an Bedeutung verloren. Dies führt dazu, dass klassische Parteibindungen verloren gehen und sich mehr Menschen kurzfristig vor einer Wahl für die jeweilige Partei entscheiden. Andererseits führen neu aufkommende Problem- und Interessenlagen auch dazu, dass andere Konfliktlinien entstehen, so zum Beispiel die zwischen wirtschaftlichem Wachstum und einer ökologisch-nachhaltigen Politik.

Das Aufkommen der ökologischen Bewegung in den 1970er und 1980er Jahren, das schließlich in der Gründung der Grünen mündete, erklärte der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart durch seine Theorie des Wertewandels. Seine Theorie besagt, dass innerhalb einer Gesellschaft bei steigendem Wohlstand das Streben nach materialistischen Werten wie Sicherheit und der Erfüllung von Grundbedürfnissen abnimmt. Gleichzeitig steigt die Bedeutung, die innerhalb der Gesellschaft postmaterialistischen Werten wie der Neigung zur politischen Freiheit oder Umweltschutz beigemessen wird.

Materialisten bevorzugen konservative Werte

Laut Inglehart tendieren materialistisch veranlagte Menschen grundsätzlich zu eher konservativen Werten, während Postmaterialisten eher Werten der Selbstentfaltung zuneigen. Postmaterialisten neigen außerdem dazu, Parteien der „neuen Politik“, wie etwa die Grünen, zu wählen. Zudem sind Postmaterialisten in neuen sozialen Bewegungen häufig stark vertreten. Nach Ingleharts Theorie des Wertewandels geht jüngeren, postmaterialistisch orientierten Menschen also der Gemeinsinn nicht abhanden. Doch anstatt sich in Parteien und Vereinen zu organisieren, bevorzugen sie eher kurzfristige Bewegungen. Beispielsweise formierte sich kürzlich eine Gruppe junger Frauen über die sozialen Medien, um als #TeamGinaLisa das Model Gina-Lisa Lohfink in einem Prozess zu unterstützen und für eine Verschärfung des Sexualstrafrechts zu demonstrieren.

Gleichzeitig kann das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte im gesamten westeuropäischen Raum nach Inglehart als eine Rückbesinnung konservativ eingestellter Menschen auf materialistische Werte gesehen werden. Ebenfalls kommt hier eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen Gegnern und Befürwortern einer zuwanderungsfreundlichen Politik zur Geltung.

 

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Pro | Der Westen wankt

Contra | Sterne polieren und weitermachen



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