DebatteGrenzen setzen
Aus Angst vor Unterdrückung, Armut und Krieg flüchten jährlich Zehntausende nach Europa. Viele von ihnen werden dort nie einen Asylantrag stellen können. Die Hoffnung auf ein besseres Leben endet oft mit dem Tod im Mittelmeer.
Insgesamt waren etwa 950 Menschen an Bord des Flüchtlingsschiffes, welches sich in der Nacht zum 19. April 2015 auf halbem Weg nach Italien befand. Um 23.30 Uhr sendete der Kutter einen Notruf. Dieser rief ein portugiesisches Handelsschiff auf den Plan. Um von ihren potentiellen Rettern gesehen zu werden, rannten die Flüchtlinge auf eine Seite des Bootes, das kippte und sank, noch ehe das Handelsschiff Rettungsboote zu Wasser lassen konnte. So erinnert sich einer der 28 Überlebenden.
Die italienische Grenzpolizei vermutet, dass die zahlreichen unter Deck eingesperrten Flüchtlinge den völlig überladenen Kutter zusätzliche nach unten drückten. Das Unglück geht als bisher größte Flüchtlingskatastrophe in die Geschichte ein. Und es lässt eine Debatte wieder aufflammen: Soll Europa seine Grenzen öffnen?
Das europäische Asylrecht ist ein Paradoxon
Das europäische Asylrecht ist paradox. Alle EU-Staaten haben sich laut Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet, Flüchtlingen Asyl zu gewähren, allerdings gelten die Regeln des europäischen Asyl- und Flüchtlingsrechts erst bei territorialem Gebietskontakt. Um diesen zu verhindern hat die EU laut Amnesty International alleine zwischen 2007 und 2013 rund zwei Milliarden Euro für den Bau von Zäunen und Überwachungsanlagen sowie für Grenzkontrollen ausgegeben.
„Es gibt derzeit keine legalen Einreisewege für Flüchtlinge in die EU“, erklärt Günter Burghardt, Pressesprecher der deutschen Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, welche sich für die Rechte verfolgter Menschen in Europa einsetzt. „Es ist grotesk: Das Asylrecht erfordert, dass Flüchtlinge einen Zugang zum Asylverfahren haben und nicht an den Grenzen zurückgewiesen werden.“
Viele schaffen es nicht einmal bis an die Grenzen. Die Arbeitsgemeinschaft europäischer Journalisten hat ermittelt, dass seit Anfang des Jahrtausends 28.000 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen sind. Dabei sind die meisten Todesfälle auf See zu verzeichnen.
„Gipfel der Schande“
Als Reaktion auf die zahlreichen Unglücke trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs Ende April zu einem Sondergipfel in Brüssel. Dabei sollten Maßnahmen entwickelt werden, um in Zukunft solche Katastrophen vorzubeugen. Diese Maßnahmen orientieren sich an einem Zehn-Punkte-Plan, den die Innen- und Außenminister der EU unmittelbar nach dem Bootsunglück aufstellten. Die finanziellen Mittel zur Seenotrettung werden nun verdreifacht, es wird vehementer gegen die Schlepper vorgegangen und es ist eine Kooperation mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge vorgesehen.
Amnesty International und Pro Asyl sind von den Ergebnissen des Gipfels enttäuscht. „Es war ein Gipfel der Schande“, sagt Burghardt. „Statt legale Einreisewege in die EU zu schaffen und damit das Sterben auf dem Mittelmeer zu verhindern, setzt die EU auf eine paramilitärische Abschreckung durch den Kampf gegen Schlepper.“ Er kritisiert, dass die Seenotrettung Aufgabe der Grenzschutzagentur Frontex bleibt, denn die „schützt Grenzen und keine Menschen“. Stattdessen fordert Pro Asyl eine Wiederaufnahme der Marineoperation Mare Nostrum. Außerdem plädiert die Organisation für ein Free-Choice-Modell, laut dem die Flüchtlinge sich aussuchen können, in welchen EU-Staat sie immigrieren wollen.
Viele Asylanträge in Ländern an Außengrenzen
Derzeit ist das nicht möglich. Die Dublin-III-Verordnung regelt das europaweite Flüchtlingsverfahren. Demnach muss ein Flüchtling in dem Land Asyl beantragen, in welchem er den Kontinent das erste Mal betreten hat. Das Resultat ist eine überdurchschnittlich hohe Zahl von Asylanträgen in den Ländern an den EU-Außengrenzen. Die sind mit dem hohen Flüchtlingsaufkommen überfordert: In Italien, Griechenland und Ungarn sind die Erstankünfte überfüllt, Antragsverfahren verlaufen schleppend, manchmal werden Asylsuchende sogar ohne Verfahren ins Heimatland zurückgeschickt.
Viele Flüchtlinge versuchen daher, auf illegalem Weg weiter in den Norden zu gelangen. Nach Dublin-Verordnung kann ein Flüchtling in das Land seiner Erstanreise zurückgeführt werden, sollte sich im persönlichen Gespräch herausstellen, dass er zunächst illegal durch den Staatenbund gereist ist. Burghardt von Pro Asyl sieht das System als gescheitert an: „Es hat aus der EU einen riesigen Verschiebebahnhof gemacht.“ Es sei verständlich, dass Flüchtlinge dorthin migrieren möchten, wo sie bereits Angehörige haben.
Deutschland bearbeitet ein Drittel der Asylanträge
Tatsächlich ist diese Regelung auch in der Praxis kaum umzusetzen: Obwohl mittig in Europa gelegen, bearbeitet Deutschland derzeit circa 31 Prozent des gesamteuropäischen Flüchtlingsaufkommens, während es in Italien zehn und in Großbritannien nur sechs Prozent sind.
Auf dem Brüsseler Sondergipfel sprach sich Bundeskanzlerin Angela Merkel daher dafür aus, langfristig eine andere Lösung für die Verteilung von Flüchtlingen zu finden. Zuvor hatte Innenminister Thomas de Maizière vorgeschlagen, die Flüchtlinge relativ zu den Einwohnerzahlen der jeweiligen EU-Staaten zu verteilen. Dagegen sind vor allem die EU-Staaten, die laut dieser Regelung mehr Asylbewerber aufnehmen müssen, als sie jetzt tun.
Diese Regelungen betreffen nur den Bruchteil der Flüchtlinge, die erfolgreich Zäune oder Meer überwunden haben und das europäische Territorium erreichen konnten. In Deutschland erhält durchschnittlich nur jeder dritte Asylantrag einen Zuschlag. Die größten Chancen auf eine Asylbewilligung haben derzeit Flüchtlinge aus Syrien und Eritrea, die mehr als die Hälfte der Bootsflüchtlinge ausmachen. Aus Syrien vertreiben sie Bürgerkrieg und Diktatur, in Eritrea sind es Armut, Folter und unbegrenzter Militärdienst.
„Migration ist ein komplexes Phänomen“
Doch generell fliehen Menschen aus verschiedensten Ländern und mit den unterschiedlichsten Motivationen. „Migration ist ein komplexes Phänomen“, sagt Kristin Kastner vom Institut für Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. „Eine Kategorisierung in Wirtschafts-, Umwelt- oder politische Flüchtlinge entspricht meist nicht den realen Lebensumständen und Migrationsbiographien.“
Mobilität habe es in Afrika schon immer gegeben. Die Menschen trieben Handel, arbeiteten saisonal, hielten familiäre Beziehungen über Grenzen hinweg aufrecht oder machten sich mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Stadt, in andere Regionen oder Länder auf. Sie tun dies nach wie vor.
Insgesamt sei die innerkontinentale Migration um ein Vielfaches höher als die nach Europa, so Kastner. Derzeit gebe es aber in Afrika viele Krisen, die die Menschen in den Norden trieben. Es sind Krisen, die teilweise von europäischer Seite mitverursacht wurden. „Es liegt in der Verantwortung Europas, die Flüchtlinge aus ihrer akuten Notsituation zu retten und zu einer fairen Lösung zu kommen“, sagt Kastner.
Offene Grenzen hält die Ethnologin für unwahrscheinlich. „Aber es muss legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa geben, beispielsweise in Form einer Quotenregelung.“ Wie sich die Situation letztendlich einpendelt könne man nur mutmaßen, einen unkontrollierbaren Flüchtlingsansturm erwartet Kastner aber nicht. „Die meisten Menschen wollen doch auf Dauer in vertrauter Umgebung im Kreise ihrer Familie leben. Außerdem hat sich schon herumgesprochen, dass auch in Europa nicht nur Milch und Honig fließen.“
So kann man sich irren