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ContraFlucht zum Feind

Von Alex Fertig / 7. Mai 2015
picture alliance / AP Photo | Santi Palacios

Europas Grenzen müssen für Flüchtlinge aus Afrika und Nahost weiterhin verschlossen bleiben. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer wird nicht gerne erwähnt: die Angst vor Nationalisten in Europa.

Die gegenwärtige Debatte über eine Änderung des Asylgesetzes und über die Aufnahme von Flüchtlingen aus den Kriegsregionen im Nahen Osten und aus Afrika wird getragen von einer nie dagewesenen Halbherzigkeit. Maßnahmen wie die Jagd auf Schlepperbanden oder das Retten Ertrinkender im Mittelmeer sind lustlose Beispiele für einen salonfähig gewordenen, geheuchelten europäischen Humanismus.

Warum unternimmt die EU nichts, das einer langfristigen Lösung des Problems gleichkommt? Was den Flüchtlingen angeboten wird, zielt selten auf die Bekämpfung der Ursachen für die Flucht. Meist handelt es sich nur um Teillösungen mit einem vergleichsweise geringen Budget wie bei der kürzlichen Frontex-Maßnahme. Dabei impliziert der Begriff Lösung, dass etwas Grundsätzliches zur Veränderung der Situation getan wird. Aber es wird nichts getan. Es wird lediglich über weitere mögliche Maßnahmen debattiert. So lange, bis das nächste Boot sinkt.

Gründe für die Zurückhaltung

Für diese Zurückhaltung und für die mangelnden wirksamen Aktionen der EU gibt es mehrere Gründe. Erstens ist die wirtschaftliche Lage in vielen europäischen Ländern wie Griechenland so desolat, dass die einzelnen Staatshaushalte keine zusätzlichen Kosten übernehmen können oder der politische Wille hier eine Veränderung der Staatshaushalte nicht ermöglicht.

Zweitens favorisieren einige Politiker die Abschottung Europas durch das Errichten von Flüchtlingszentren in Nordafrika.

Drittens halten es mittlerweile viele Politiker für naheliegender, die Schlepperbanden aufzuspüren und mit abschreckender Wirkung zu bestrafen. Das bekämpft aber nur die Symptome.

Nationalisten auf dem Vormarsch

Außerdem bleiben Europas Grenzen geschlossen, weil man Europa vor dem Zusammenbruch schützen will. Die Nationalisten sind überall auf dem Vormarsch und machen eine vernünftige Flüchtlingspolitik so gut wie unmöglich.

Man bekommt den Eindruck, dass den Flüchtlingen nicht in vollem Umfang geholfen wird, weil die rechtsradikalen Kräfte dadurch indirekt gestärkt werden könnten. Der britische Premier David Cameron ließ sich im Wahlkampf zu der Aussage hinreißen, die Briten seien nicht „hart genug zu Leuten, die von der anderen Seite der Welt kommen“.

Dagegen warnte SPD-Chef Sigmar Gabriel unlängst, „man darf nicht unterschätzen, wie groß die Gefahr ist, dass die Anti-Europäer, die Rechtspopulisten und Rechtsradikalen zum ersten Mal Morgenluft wittern, um dieses große europäische Projekt zu stoppen und zu stören“.

Die EU will Nationalisten wie Marine Le Pens Front National, der UKIP und der NPD offenbar kein Futter geben, keine Flüchtlinge, mit denen sie Wahlkampf machen können. So bemüht man sich um eine Politik der ausgestreckten Hand, und diese Hand symbolisiert Abwehr, Ablehnung, Verleugnung und Angst.

Opfer mit abschreckender Wirkung

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die sterbenden Flüchtlinge eine abschreckende Wirkung auf diejenigen ausüben sollen, die beabsichtigen, nach Europa zu kommen. Aber das mit der abschreckenden Wirkung ist eine uralte Idee von Wladimir Iljitsch Lenin.

Dieser verweigerte einer Erzählung zufolge seiner Putzfrau ein paar Rubel, die sie einem hungernden Bettler zuwerfen wollte. Die Menschen müssten erst sichtbar an Armut in den Gassen der Städte sterben, damit sich das System verändere, soll Lenin seiner Putzfrau erklärt haben. Nur so komme es zu einer Umwälzung und zu einer Veränderung des Systems.

Lenins Ansicht klingt apokalyptisch und grausam. Ist das Mittelmeer außerdem nicht zu weit weg, um das „System Europa“ zu verändern? Die Flüchtlinge sterben ja nicht in den Gassen unserer Städte. All die hungernden Menschen ertrinken elendig vor unseren abgesicherten Grenzen. Sie sterben vor Lampedusa, und das sehen wir nicht – oder wir wollen es nicht sehen.

Nicht handeln wie Lenins Putzfrau

Aber alle Nichtstuer sind wie Lenins Putzfrau, die dem Bettler aus der Ferne zuruft: „Ich kann, nein, ich darf nichts für dich tun, denn du Bettler und dein Sterben sind wichtig für den Ausgang der Revolution!“

Allerdings ist diese „Revolution“ bereits in vollem Gange, weil wir leider versäumt haben, das Problem mit den Faschisten in Europa in den Griff zu bekommen. Daher rührt die Unfähigkeit, den Flüchtlingen zu helfen und die wahre Gefahr für einen Umbruch in Europa, der zu einem Zerwürfnis des Staatenbündnisses führen könnte.

Eine Öffnung der europäischen Grenzen stellt keine Lösung für die Flüchtlinge dar. Sie werden zum Spielball einer taktierenden Politik in Europa. Die Grenzen halten das System künstlich zusammen. Deshalb müssen die Flüchtlinge draußen bleiben. Und darum sollte man ihnen zu ihrem eigenen Schutz zurufen: „Lasst euch nicht instrumentalisieren!“

Denn in Europa wartet keine Willkommenskultur, sondern eine irrationale Xenophobie und die Gefahr, die Menschenwürde zu verlieren. Dabei wird die Anzahl derer, die vor Krieg und Hunger flüchten, für die kommenden Jahre auf mehrere Millionen Menschen geschätzt. Letztlich ist eine Flucht hinter die Mauern der Festung Europa wie eine Flucht zum Feind.

Eine langfristige Lösung der Flüchtlingskatastrophe kann nur aus der Beseitigung der wahren Ursachen für die Flucht bestehen, also aus der Beendigung von Konflikten und der Bekämpfung von Hunger, Armut und Elend.

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