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ProIndividualität: Strategie und Privileg

Von Hilistina Banze / 31. März 2021
picture alliance / Zoonar | Toni Rantala

Einigen Menschen wird es durch soziostrukturelle Bedingungen schwer(er) gemacht, in Freiheit zu sich selbst zu finden. Das Streben nach Individualität ist weniger eine Handlungsoption als ein Privileg, denn nicht alle Menschen werden gleichermaßen von der Außenwelt als Individuum wahrgenommen.

Als Individuum wahrgenommen zu werden, das scheint für viele Menschen alltäglich, ja selbstverständlich zu sein: Auch wenn garantiert noch mindestens zwei weitere Menschen in einem Hamburger Unternehmen weiß und deutsch sind und Peter heißen, wird ein Peter als eine Person mit individuellen Eigenschaften wahrgenommen, während eine ebenso deutsche, jedoch Schwarze Hilistina unweigerlich als eine Repräsentantin verschiedener Kulturräume betrachtet wird. Bis das Individuum hinter den diversen Kategorien von Außenstehenden wahrgenommen wird, dauert es oft lange und auch noch nach Jahren steckt es mitunter fest in den ihm zugeordneten Schubladen. Für diesen Prozess kontinuierlicher Aufrechterhaltung von vermeintlicher Andersartigkeit gibt es den Begriff des „Othering“. Im Vergleich dazu ist eine deutsche weiße Frau, die etwa in Uganda als fremd wahrgenommen wird, nicht gleichzusetzen mit einer deutschen Schwarzen Frau, die in Deutschland, ihrem Geburtsland, zur Fremden erklärt wird. Die historisch gewachsenen Machtverhältnisse sind andere.

Die Bundeszentrale für politische Bildung benennt als Grundsatz des Individualismus „die Freiheit des [*der] Einzelnen“. Ich verstehe in dem Zusammenhang das Konzept des Individualismus (in Abgrenzung zum Begriff Egozentrismus) als ein Selbsterkennen und damit als Grundlage für ein bewusstes und selbstbestimmtes Handeln. Da Peter selbstverständlich als Individuum adressiert wird, beginnt sein Weg hin zu einem selbstbestimmten und in Freiheit agierenden Ich von einer anderen Warte aus als der Weg von Personen, die zunächst verstehen müssen, welche Zuschreibungen sie von außen erhalten.

Sich individuell verorten als Akt der Selbstermächtigung

Das Streben nach Individualität ist zunächst ein Weg, um sich selbst zu erkennen und zu verorten. Wer sich selbst kennt, ist in seiner*ihrer Suche nach Identität und Individualität diesen Zuschreibungen Anderer nicht ausgeliefert.

So verstanden ist Individualismus eine Form der Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen, um die eigenen Bedürfnisse überhaupt ergründen zu können. Aus diesem Grund kann es sinnvoll sein, sich Empowerment-, Aktions- und Schutzräume zu schaffen; zum einen, um unter Gleichen die Erfahrung zu machen, als Individuum wahrgenommen zu werden, und zum anderen, um sich durch den Bezug zur Gruppe gesamtgesellschaftlich verorten zu lernen.

In diesem Sinne ist der Individualismus nicht als Widerspruch zum Kollektivismus zu verstehen, sondern als notwendig anzuerkennen. Eine Bedingung, um sich in unserer komplexen Welt zurechtzufinden. Wenn aber ein Heimatminister kurz nach seinem Amtsantritt öffentlichkeitswirksam darüber urteilt, wer oder was zu Deutschland gehört und wer oder was nicht, dann sind es konkret die auf diese Weise von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossenen Menschen, welche in der Konsequenz aktiv abgewertet werden. Und nichts anderes.

Der Gedanke, dass eine einzelne Person sich gegebenenfalls dem Wohle der Allgemeinheit unterordnen muss, ergibt eben nur dann Sinn, wenn diese Allgemeinheit inklusiv strukturiert und gelebt wird, Menschen also keine systematische Diskriminierung und Diffamierung erfahren.

Allen Stimmen Raum im Diskurs geben

Solange aber immer dieselben Menschen strukturelle und institutionelle Barrieren zu überwinden haben, müssen sie Strategien für sich entwickeln, um positive Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln zu können. Sie müssen Orte finden und aufsuchen, in denen sie nicht von einer Dominanzkultur auf bestimmte, ihnen zugeschriebene Merkmale festgelegt werden.

Wenn wir über die Themen Identität und Individualität und die damit zusammenhängenden Diskriminierungsmechanismen gesellschaftlich debattieren wollen, müssen wir bereit sein, allen Stimmen einen Raum zu geben, anstatt immer dieselben Talkshows mit immer denselben strategisch besetzten Sprecher*innenrollen als vermeintlich offenen Diskurs zu deklarieren. Es gibt schon heute andere mediale Formate, die mehr können und auch mehr wollen, wie beispielsweise „Die beste Instanz“ beweist. Sie müssen nur noch ernst genommen werden.



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