DebatteLügen als legitimes Mittel der Politik?
Egal, ob Flüchtlingskrise oder Corona-Pandemie, das Misstrauen gegenüber den politischen Eliten ist groß. Häufig heißt es, dass „die da oben“ uns „hier unten“ ohnehin nur belügen würden. Aber stimmt das? Und gibt es Fälle, in denen Lügen in der Politik legitim sein kann?
Ansätze der politischen Philosophie
Über die Frage, ob Lügen in der Politik ein legitimes Mittel ist, haben sich schon viele Philosophen den Kopf zerbrochen. So plädierte der Florentiner Philosoph und Politiker Niccolò Machiavelli für die Lüge als kunstvolle Täuschung durch die Politik, um das Ego des Bürgers unter die Staatsinteressen zu stellen. Der Staat sei wichtiger als das Individuum und hätte auch das Recht, zur Durchsetzung seiner Ziele den Bürger zu täuschen.
Der Aufklärer Immanuel Kant kam hingegen zu dem Schluss, dass keine Lüge, auch keine Notlüge, moralisch vertretbar sei. Die Wahrheit sei stets wichtiger als der Nutzen durch die Lüge. Welche Theorien dem Handeln Politiker der jüngeren Vergangenheit zugrunde lagen, ist weniger einfach auszumachen. Die Entscheidung für die Wahrheit musste augenscheinlich oft politischem Kalkül weichen.
An der Wahrheit vorbei
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“, ist wohl eine der bekanntesten Lügen in der deutschen Geschichte. Nur zwei Monate nachdem SED-Chef Walter Ulbricht im Juni 1961 ebendiese Unwahrheit verkündet hatte, war die Berliner Mauer Realität geworden. Dass Diktaturen sich auf Lügen begründen, ist nichts Außergewöhnliches. Bevor Hitler den Zweiten Weltkrieg lostrat, täuschte er die Weltgemeinschaft samt eigener Bevölkerung über seine wahren Interessen. In seiner ersten außenpolitischen Rede am 17. Mai 1933 betonte er den Frieden, das junge Deutschland sei des Leids durch den (Ersten Welt-) Krieg so überdrüssig, dass es dieses anderen Nationen nicht zufügen wolle.
Sechs Jahre später, die Hitler zur militärischen Vorbereitung nutzte, befahl er den Angriff auf Polen, der ebenfalls mit einer Lüge begann. Polnische Soldaten hätten eine deutsche Radiostation überfallen, weshalb man beschlossen habe, „ab 5.45 Uhr zurückzuschießen“. Millionen Deutsche folgten ihrem „Führer“ ins kollektive Verderben und träumten selbst dann noch vom „Endsieg“, als die Fronten im Westen und Osten zusammenbrachen.
Politische Lügen in demokratischen Systemen
Lügen sind nicht nur in Diktaturen salonfähig. Auch die Machthaber demokratischer Systeme bedienen sich ihrer regelmäßig. Die USA hat viel außenpolitisches Vertrauen verspielt, da auch sie Kriege auf Lügen gründete. Der sogenannte Tonkin-Zwischenfall Anfang August 1964, mit der die US-Administration den Vietnamkrieg rechtfertigte, war frei erfunden. Einen nordvietnamesischen Angriff auf zwei amerikanische Kriegsschiffe im Golf von Tonkin hat es wohl nie gegeben. Gleiches gilt für den Irakkrieg, den die USA 2003 mit der offiziellen Begründung legitimierte, dass Saddam Hussein im Besitz von Massenvernichtungswaffen sei.
Bei den geschilderten Beispielen handelt es sich um drastische Fälle. Selbstverständlich gibt es harmlosere Lügen, die in diesem Kontext geradezu belanglos erscheinen. Wie zum Beispiel die von deutschen Politikern, die über fragwürdige Zuwendungen von Seiten der Wirtschaft oder Plagiatsvorwürfe stolperten. Aber selbst dubiose Spenden von niederländischen Unternehmern an die CDU oder wissenschaftliches Versagen, um sich mit einem akademischen Titel mehr Anerkennung zu sichern, zeigen: Diese Art von Fehlverhalten bringt am ehesten Erklärungsnot mit sich. In anderen Fällen ist der Preis höher.
Lügen als Karrierekiller
Ob Christian Wulff oder Karl-Theodor zu Guttenberg: Ihre Falschdarstellungen lösten eine Welle der Empörung aus und beendeten ihre politischen Karrieren rapide. Als eigentlicher Kollateralschaden aber kann wohl das erschütterte Vertrauen einer ganzen Gesellschaft in die Politik an sich und die bestärkten Zweifel der Politikverdrossenen gelten, dass „die da oben“ ohnehin nur machten, was sie wollten.
Aber ist wirklich jede Falschdarstellung eines Politikers gleich eine Lüge? Gibt es nicht auch Lügen, die der Gesellschaft mehr nützen als schaden? Diese Fragen werden wohl nie an Aktualität verlieren. Doch scheint rückblickend die Bewertung nachweislich falscher Behauptungen vielfach gnädiger auszufallen. Die berühmte Behauptung Norbert Blüms 1997, die Renten seien sicher, lasten ihm heute nur noch wenige als explizites Lügenkonstrukt an. Anders als die Opposition, die in (gebrochenen) Wahlversprechen eine „Verbreitung einer Unwahrheit mit Täuschungsabsicht“ erkennt, zeigen sich inzwischen viele Wähler abgeklärter und werten Wahlversprechen eher als eine Wette auf die Zukunft.
Die beruhigende Halbwahrheit
Eine Aussage mit ähnlicher Wirkung machten Angela Merkel und der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück in der Finanzkrise 2008. „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein“, hieß es von Seiten der Kanzlerin. Aber stimmte das wirklich? Konnte der Staat zu diesem Zeitpunkt tatsächlich garantieren, dass ihre Ersparnisse sicher seien? Die landläufige mediale Sichtweise kam irgendwann zu dem Schluss, dass die „Merkel-Garantie“ wohl nur zum Ziel hatte, einen Ansturm auf die Banken zu verhindern und so einen erwarteten Zusammenbruch des Finanzsystems in Deutschland abzuwenden.
Kann deshalb vor diesem Hintergrund von Lüge gesprochen werden? Sicher ist, dass Aussagen über die Zukunft es mit der Wahrheit nunmal nicht so genau nehmen können. Was zum Schaden oder Nutzen einer Gesellschaft wird, stellt sich oft erst im Nachhinein dar.