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DebatteNur einen Steinwurf entfernt?

Von Sebastian Krieger / 29. November 2019
Credits: BUNDjugend/22a (flickr);

Gewalt bei Protesten schafft Aufmerksamkeit. Aber ist sie deswegen legitim? Ab wann Widerstand als gewaltsam gelten kann und welche Rolle Gewalt für eine Bewegung spielt, sind immer wieder Streitfragen.

Manchmal reichen Kleinigkeiten und aus einer friedlichen Demonstration wird eine gewalttätige Auseinandersetzung. Polizist*innen setzen ihre Schutzhelme auf, Demonstrierende verdecken mit Transparenten ihre Gesichter. Alles Signale, die von der jeweils anderen Gruppe als Zeichen bevorstehender Gewaltanwendung interpretiert werden können und möglicherweise als selbsterfüllende Prophezeiung wirken.

Analysen verhelfen nicht unbedingt zu mehr Akzeptanz

So manche soziale Bewegung setzt Gewalt bewusst ein, um das eigene Ziel zu erreichen. Sie kann aber auch als rein symbolische Handlung gemeint sein. Max Schulte, Politikwissenschaftler an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, erklärt: „Dahinter steckt die Idee, dass es strukturelle Gewalt gibt und symbolische Gewalt ein Mittel ist, um gegen diese zu kämpfen. Ein Beispiel dafür sind Anschläge auf ein Arbeitsamt oder eine Kaserne, also institutionelle Gebäude. Auch nach dem Anschlag gibt es die Institutionen noch“. Im Vordergrund steht hier der Kampf gegen ein System, nicht gegen Menschen.

Auf der anderen Seite gibt es Protest, für den Gewaltfreiheit essentiell wichtig ist. Bernd Drücke vom Magazin graswurzel revolution – für eine gewaltfreie, herrschaftslose gesellschaft lehnt Taten ab, die in der Konsequenz Menschen gefährden. „Es gibt sinnvolle Aktionen, die im Sinne der Idee einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft stehen. Aber es gibt viele Aktionen, die einfach nur kontraproduktiv sind.“ Dazu zählen für Drücke beispielsweise Steinwürfe aus Demonstrationen heraus. Ziel und Form des Protests müssten zueinander passen, mahnt der Redakteur.

„Gewaltsamer Protest gehört zur Menschheitsgeschichte“

Nicolai Hannig, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der LMU München, betont: „Gewaltsamer Protest gehört seit jeher zur Menschheitsgeschichte. Seit es Organisation durch Politik, Staaten und Herrscher gibt, findet sich auch immer Auflehnung dagegen“.

So wird deutlich, dass sich Motivation und Formen widerständischer Gruppen mit der Zeit spürbar verändern. Im 18. Jahrhundert protestieren in Deutschland die ärmeren Bevölkerungsschichten gegen steigende Brotpreise. In ihrem Aufruhr zerstören sie das Eigentum von Bauern – wohl als Druckmittel für eine gerechtere Preispolitik. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts taucht ein neues, umfassenderes Ziel auf: der revolutionäre Umsturz der Gesellschaft. Dafür wird ein hoher Preis in Kauf genommen. Während der Novemberrevolution 1918 in Berlin kämpfen Sozialist*innen und Freikorps aktiv gegeneinander, in den Straßenkämpfen sterben hunderte Menschen.

Was heißt hier Gewalt?

Politikwissenschaftler Schulte spricht sich für den einfachen Gewaltbegriff aus, wonach eine Aktion als gewalttätig gelten kann, wenn sie sich gegen Personen oder Eigentum richtet. Also physischer Natur ist.

Ganz so simpel ist es aber nicht. Wie ist beispielsweise das Stickern auf Demonstrationen zu bewerten? Wer einen Aufkleber auf eine Laterne, ein Haus oder Auto klebt, begeht Sachbeschädigung. „In dem Fall würden wir aber nicht von Gewalt sprechen“, so Schulte. Rechtlich betrachtet, hält er fest, dass es „keine klare Grenze zwischen Sachbeschädigung und Gewalt gibt“.

Noch fragwürdiger ist die uneindeutige Grenzziehung im Fall der PEGIDA-Demonstrationen. Dort zeigten Teilnehmende Galgen, die mit „Merkel“ beschriftet waren. Ein mehr als deutlicher Aufruf zur Gewalt, wenngleich nur sein symbolhafter Charakter nachweislich blieb. Nicht weniger verstörend mutet der (unscharfe) Übergang zu Terrorismus an. Rechtsextreme können in ihrer Selbstwahrnehmung Ausdruck eines noch so legitimen Widerstands sein, der Mord an Walter Lübcke, Gewaltandrohungen gegenüber weiteren Politiker*innen und anderen engagierten Menschen der Zivilgesellschaft sind Formen organisierten Rechtsterrors, nicht demokratischen Protests.

Protestbewegungen definieren sich über Gewalt

Abgesehen von problematischen Definitionsversuchen von außen, stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Legitimität von Gewalt im Rahmen von Protesten auch den Anhänger*innen selbst. 1997 kam es bei den Protesten gegen mit Atommüll befüllte Castor-Behälter („Castor-Transporte“) im Wendland zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Autonomen auf der einen und gewaltfreien Gruppen auf der anderen Seite.

Historiker Hanning erinnert daran, dass gewaltlose Protestformen wie Schmähverse und Sternenmärsche im Laufe der Jahrhunderte Unterstützung fanden, weil sich so auf friedliche Weise dem eigenen Ärger Luft machen ließ. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen außerdem Prominenz und Persönlichkeit. Mahatma Gandhis Kampf für die Unabhängigkeit Indiens, der 1930 mit dem „Salzmarsch“ begann und sich durch seine Gewaltfreiheit auszeichnete, ist dafür beispielhaft. Die britische Kolonialmacht hatte bis dahin das Salzmonopol inne. Millionen Menschen folgten Gandhi in seinem gewaltfreien Widerstand und begannen selbst, Salz abzubauen. Obwohl mehr als 50.000 Menschen verhaftet wurden, war die gewaltfreie Bewegung erfolgreich.

Und heute? Sind Gewaltfreiheit und radikaler, kompromissloser Protest zusammen nicht nur denkbar, sondern auch erfolgreich? Redakteur Drücke sieht die Klimabewegung und Fridays For Future in der Tradition gewaltfreier Bewegungen. „Inzwischen sind gewaltfreie Aktionsmittel, wie wir sie propagieren, weitgehend Konsens“, freut er sich.

Ergänzend zum Überblick der GEWALT-Debatte gibt es wieder eine exklusive Umfrage:

Das Meinungsforschungsunternehmen Civey hat im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung mehr als 2.500 Personen am 04.11.2019 befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren. Der statistische Fehler der Gesamtergebnisse liegt bei 3,4 Prozent.


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