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DebatteProfitiert Deutschland von laizistischen Strukturen?

Von Maria Köpf / 30. November 2022
picture alliance / Hans Lucas | Benjamin Mengelle

Das Thema Identität ist in aller Munde. Das gilt für Fragen zur Religion wie auch im Zusammenspiel von kulturellen, sozialen und politischen Einflüssen. Ob und wie staatliche und religiöse Strukturen miteinander „harmonieren“ oder identitätsstiftend funktionieren, sorgt für Diskussionen.

Vorweg: Eine sogenannte hybride Identitätsbildung in Glaubensangelegenheiten wird möglich, wenn die jeweiligen Klischees beim Thema muslimische, christliche, jüdische und hinduistische Religion durch Neugierde und Wertschätzung aufgelöst werden. Etwa wenn ein Schüler aus dem Iran eingewandert ist, am liebsten Deutsch-Pop hört, indisch kocht und sich an muslimische Speisevorschriften hält.

Hybrid gestaltete sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch das Selbstverständnis des deutschen Volkes. Vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es in Artikel 140 des Grundgesetzes: „Es besteht keine Staatskirche“. Nach dem totalitären nationalsozialistischen System entschied man sich gegen eine ideologische Prägung des gesellschaftlichen Lebens. Religion – nach einer jahrhundertelangen Entwicklung vom Humanismus über die Aufklärung bis hin zu schmerzlichen Erfahrungen aus Religionskriegen zwischen Protestanten und Katholiken – sollte in ihrer untergeordneten Funktion keinen direkten Einfluss auf Politik und Lebensführung mehr ausüben. Doch eben nicht laizistische Strukturen, sondern ein weltliches Gebilde sollte geschaffen werden, das kulturelle, religiöse und soziale Diversität für einen säkularen Staatsaufbau zuließ.

„Hinkende Trennung“

Deutschland ist im Unterschied zu Frankreich, Portugal oder Tschechien per Verfassung explizit nicht laizistisch. Während dort Religionsgemeinschaften eine Stellung ähnlich der eines Tierschutzvereins zukommt, spricht man bei uns noch immer von einer „hinkenden Trennung“ zwischen Kirche und Staat. Der Begriff wurde bereits in den 1950er Jahren für die unvollkommene Abgrenzung von Staat und Religion verwendet. Historiker und Sozialwissenschaftler sprechen gemeinhin von Überschneidungen, die als „partnerschaftliche Zusammenarbeit“ beschrieben werden: So zieht der Staat die Kirchensteuer für die katholische und evangelische Kirche ein; die Religionsgemeinschaften zeigen sich verantwortlich für den Religionsunterricht an staatlichen Schulen; es gibt christliche Feiertage, die als gesetzliche Feiertage gelten. Und: In Deutschland wird der Bundeskanzler traditionell mit den Worten „So wahr mir Gott helfe!“ vereidigt, wenngleich bereits zwei Kanzler auf diese Formel verzichteten.

Nicht nur christlich-abendländische Wurzeln

Die beschriebene Verflechtung entstammt nicht bloß der Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. „Sie speist sich auch aus Traditionsbeständen und politischen Kreisen, die stets auf die christlich-abendländischen Wurzeln unserer Regierung hinweisen“, betont der Zeithistoriker Prof. Thomas Großbölting gegenüber der Bundeszentrale für politische Bildung. Er wünscht sich für Deutschland mehr religiösen Pluralismus. „Der Staat muss aufpassen, dass er in diesem Kooperationsmodell den gleichen Abstand oder die gleiche Nähe zu allen Religionsgemeinschaften hat“. Von staatlicher Seite müsse kommuniziert werden, dass es zwar christlich begründete Grundwerte gebe, aber eben auch humanistische Wurzeln und Einflüsse anderer Weltreligionen das identitäre Selbstverständnis der Gesellschaft prägten. Die Debatte, ob der Islam zu Deutschland gehöre, hält der Historiker insofern für absurd, als doch der islamische Glaube der hier lebenden Bevölkerung längst zu Deutschland gehört.

Gemessen an der Zahl muslimischer Mitbürger wird Islamunterricht in staatlichen Schulen nur bedingt umgesetzt. Bislang nehmen bei knapp 580.000 muslimischen Schülern in Deutschland rund 60.000 von ihnen (Stand: 2020) an einem muslimisch orientierten Unterrichtsfach, das im Rahmen eines schulischen Religionsunterrichts organisiert wird, teil.

Auf der Suche nach Kooperation

Das föderalistische Prinzip – im Gegensatz zum zentralistischen in Frankreich – und ideologische Kriege haben in Deutschland Spuren hinterlassen. Sie nährten in vielen Bürgern das Gefühl, stolz auf das freiheitliche System ihres säkularen Staats zu sein, der die persönliche Weltanschauung seinen Bürgern selbst überlässt. Dennoch ruft die im Grundgesetz verankerte Kooperation zwischen Staat und Religion dazu auf, von Staats wegen in den Dialog mit den verschiedenen Anschauungen der Staatsbürger zu treten und den existierenden Multikulturalismus, mithin ein deutlicher Ausdruck für hybride gesellschaftliche Identitätsbildung, anzuerkennen. „Religionen sind auch ein Identitätsangebot und ein Anker. Viele fühlen sich wohl, weil sie religiös werden, viele finden darin Ruhe, Frieden oder Freunde“, berichtete die einstige Pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank, die Politologin Saba Nur-Cheema, aus ihrer Arbeit mit Jugendlichen. „Für andere Jugendliche ist es aber wiederum eine Abgrenzung zu sagen, ich möchte ganz dezidiert nicht religiös sein, auch wenn alle in meiner Peer-Group es sind.“

Schulischer Religionsunterricht für mehr Diversität

Sich explizit im Rahmen des Religionsunterrichts mit den unterschiedlichen Weltreligionen und deren gelebter Praxis zu beschäftigten, gilt als legitimes innerstaatliches Gesellschaftskonzept. Fraglich werde es, so Nur-Cheema, wenn Minderheitenreligionen allein aus dem christlichen Blickwinkel betrachtet würden. Während in der christlichen Bevölkerung Gemeindearbeit oft von tiefer Bindung an und Identifikation mit der Religionslehre zeuge, sei dies im muslimischen Verständnis nicht zwangsläufig. Hier könnten Menschen aus rein zwischenmenschlichen oder kulturellen Motiven an Gemeindeaktivitäten teilnehmen.

Nur-Cheema zeigt sich überzeugt: „Für ein säkulares Bildungskonzept ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Religion von Bedeutung.“ Panik sei unangebracht, wenn ein Teenager sich für eine Religion begeistere, zu der sich in wenigen Fällen auch religiöse Fanatiker bekennen. Ohne fundamentalistische Positionen zu fördern, könnte ein Jugendlicher problemlos auch in seiner religiösen Identitätsbildung gestärkt werden.



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