ContraFreizeit ist ein Menschenrecht
Staatliche Eingriffe in die Freiheit der eigenen Bevölkerung müssen immer gut begründet sein. Manchmal aber sind sie genau das nicht. Nicht nur darum müssen wir uns dagegen wehren, dass andere über uns entscheiden.
Auf meinem Computer sind zwei Screenshots aus Serien mitsamt Zitaten abgespeichert: „Pleasure never makes me feel guilty“ von der US-amerikanischen Schriftstellerin Fran Lebowitz aus der Dokumentation „Pretend It’s a City“ und ein Screenshot aus „Gilmore Girls“, in dem Mutter Lorelai fragt „How come you’re not excited about life?“ und Tochter Rory entgegnet: „I find nothing exciting before 11:00”. Beide Zitate stehen für die Freiheit, die eigene Freizeit nach eigenem Gusto zu gestalten.
Freizeit ist ein kostbares Gut ─ und in der Form, in der wir sie kennen, eine relativ neue Errungenschaft. Erst in den 1950er Jahren forderte die IG Metall in der Bundesrepublik die Einführung der Fünftagewoche. In einem schlecht gealterten Video zu dieser Forderung werden verschiedene Männer bei Freizeitaktivitäten wie Federball und Gartenarbeit gezeigt, teilweise in Begleitung knapp bekleideter Frauen. Schließlich verkündet ein Kind: „Samstags gehört Vati mir“.
Diese Geschlechterrollen sind zumindest teilweise überwunden, was bleibt ist – die Freizeit: ein Menschenrecht. In Deutschland wird zusätzlich durch die allgemeine Handlungsfreiheit und die personelle Selbstbestimmung festgelegt, dass man seine Freizeit individuell gestalten darf. Das Recht auf selbstbestimmte Freizeit ist damit unantastbar ─ eigentlich, denn in der Praxis wurde und wird es immer wieder angetastet.
Es heißt Freizeit, nicht Arbeitszeit
Neulich lief ich in Berlin-Prenzlauer Berg an einem Co-Working-Space vorbei, der groß mit dem Slogan warb: „Welcome home. Oops, we meant ‚welcome to work‘.“ Was an solchen Vorstellungen vom Arbeitsplatz als zweitem Zuhause problematisch ist, beschreibt Martin Wehrle in einem Spiegel-Artikel: „Immer mehr Firmen locken mit Fitnessräumen, Tischtennisplatten und Gratisgetränken. Doch der Traumarbeitsplatz wird schnell zur Falle: Die Mitarbeiter sollen sich so wohl fühlen, dass sie gar nicht mehr nach Hause wollen. Sondern durcharbeiten.“ Wie lange gearbeitet und/oder Tischtennis gespielt wird, bleibt dabei jedem selbst überlassen. Und suggeriert: einen Hauch von Freiheit. Dennoch: Freizeit ist das Gegenteil von Arbeit und sollte dementsprechend nicht am Arbeitsort verbracht werden. Vielleicht möchte ich auch nicht mit meinen Kolleg*innen Tischtennis spielen, sondern lieber mit meinen Freund*innen. Oder ich habe gar keine Lust auf Tischtennis, und binge lieber abends zum dritten Mal alle Staffeln von „New Girl“.
Wenn der Staat in die Freizeit eingreift
Noch problematischer sind aber Eingriffe des Staates in die Freizeitgestaltung. Wenn Arbeitgeber*innen sich in die Freizeit ihrer Angestellten einmischen, kann das zu mehr Arbeit führen. Wenn der Staat dies tut, ist ein Nährboden für Manipulation, Propaganda und Überwachung nicht mehr weit. Diese Art der Einmischung ist in Deutschland älter als die Fünftagewoche.
Im Nationalsozialismus wurden Kinder ab zehn Jahren verpflichtet, den verschiedenen Gruppen der Hitlerjugend beizutreten, die nach der Gleichschaltung die einzigen staatlich anerkannten Jugendverbände waren. Dort sollte durch Sport, Schießübungen und Wanderungen gelernt werden, dem diktatorischen Regime zu dienen. Jungen wurden auf ihre Rolle als Soldaten im bevorstehenden Weltkrieg vorbereitet, Mädchen sollten zu gebärfreudigen (Haus-)Frauen erzogen werden. Die rassistische und sozialdarwinistische Propaganda fand so Platz in Schule und Freizeit, um alle Kinder und Jugendlichen vollständig zu indoktrinieren. Selbst Sophie und Hans Scholl, die späteren Widerstandskämpfer*innen der Weißen Rose, nahmen daran einige Jahre begeistert teil.
In der DDR beschränkte man die Freizeit von Kindern und Jugendlichen ebenso, indem der Staat nur eine Organisation anerkannte: Die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Es gab keine Pflicht ihr beizutreten, doch wer nicht hinging, war unfrei; er oder sie konnte zum Beispiel nicht das anvisierte Studium aufnehmen oder den eigenen Berufswunsch ausüben, teilweise nicht einmal das Abitur ablegen.
Freizeit muss nicht nützlich sein
Dementsprechend sollten wir auch heute freizeitliche Verhaltenseinschränkungen „zum Selbstschutz“ kritisch betrachten. Damit sind nicht Tempolimits auf Autobahnen gemeint oder Maßnahmen, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern ─ diese beiden Beispiele können Menschenleben retten. Es sind eher Zensur, Verbote und Einschränkungen bei der Nutzung von Medien, wie Computerspielen, bei denen man sich fragen sollte: Dienen sie wirklich diesem oft zitierten Selbstschutz? Oder doch dem Machtapparat Staat? Oder der Wirtschaft? Wer weniger Computer spielt, hat mehr Zeit für sinnvolle Aktivitäten, wie Sprachen lernen, die einen auf die berufliche Zukunft vorbereiten und den Markt stärken.
Es gibt in Deutschland und vielen anderen Ländern ein breites Angebot an Freizeitaktivitäten, angeboten von Vereinen, Schulen, Kirchen, privaten wie auch staatlichen Organisationen. Aber auch vermeintlich nichtsnutzige Freizeitaktivitäten sind ─ solange sie niemandem schaden ─ eine gute Wahl. Freizeit muss nicht nützlich sein. „Pleasure never makes me feel guilty.“ Oder wie der walisische Dichter W.H. Davies in seinem Gedicht „Leisure“ schon 1911 fragte: „What is this life if, full of care, / We have no time to stand and stare?” W.H. Davis möchte in den Wäldern nachschauen, wo Eichhörnchen ihre Nüsse verstecken und eine schöne Frau beim Tanzen beobachten. Ich bin überzeugt, er würde sich auch heute von nichts und niemandem reinreden lassen, das nächtliche Tischtennisspiel am Arbeitsplatz verweigern und stattdessen zu Hause so lange Computer spielen, wie er will oder „New Girl“schauen. Oder „Pretend It’s a City“. Oder „Gilmore Girls“. Oder einfach gar nichts tun.