ProReich durch Kapitalismus? Es reicht!
Wir leben im grenzenlosen Überfluss. Wir zerstören die Umwelt und berauben nachfolgende Generationen ihrer Zukunft. Schuld daran sind nicht wir, sondern das System. Deswegen müssen wir es ändern.
Die Wahrscheinlichkeit, dass du heute schon jemanden ausgebeutet oder ein Stück Umwelt zerstört hast, ist ziemlich groß. Nichts für ungut – das liegt einfach daran, dass du im Kapitalismus lebst. Und der hat die Grenzen des planetar und humanitär Tragbaren längst überschritten.
Kurze Begriffsklärung, weil Kapitalismus so ein riesiges Buzzwort ist: Eigentlich leben wir in einer sozialen Marktwirtschaft. Die müsste nicht zwingend kapitalistisch organisiert sein. Ist sie aber. Zumindest solange praktisch die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens besitzen. Und solange den Reichen und Mächtigen Profite wichtiger sind als Menschen und andere Lebewesen.
Zur Frage, was Kapitalismus und soziale Marktwirtschaft jeweils ausmacht, sind ganze Bibliotheken geschrieben worden. Ich will mich auf einen Wesenszug konzentrieren: den Wachstumszwang. Er bringt, meiner Meinung nach, das Fatale unseres aktuellen Wirtschaftssystems auf den Punkt. Es ist nicht nur das erklärte Ziel der Industrie, sondern auch regierender politischer Parteien, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen möge. Dass also auch die deutsche Wirtschaftsleistung 2019 größer sein möge als 2018. Und 2020 noch größer als 2019…
Als Menschen, die wir auf der Erde und von ihr leben, haben wir aber nur diesen einen bewohnbaren Planeten. Die fossilen Rohstoffe, die wir seit der industriellen Revolution im Namen des Fortschritts verheizen, sind begrenzt. Natürliche Rohstoffe wachsen nicht so schnell nach, wie wir sie beanspruchen. Wir wissen um diesen Umstand, die Grenzen, die wir überschritten haben, sind offensichtlich: Wenn wir so weiter machen, sind die Meere bald so gut wie leergefischt, die Böden ausgelaugt und jahrhundertalte Wälder Geschichte. All diese Ressourcen stellen die materielle Basis für die Wirtschaft dar, die ständig weiter wachsen soll. Dieses Verhalten ist alles, aber nicht wirklich rational.
Zu dem ökologischen Dilemma kommt noch ein soziales. Westeuropäische und nordamerikanische Marktwirtschaften stehen in einer kolonialistischen Tradition. Verkürzt gesagt: Unser Reichtum basiert auf der Ausbeutung von Menschen des Globalen Südens. Nach wie vor. Für den Kaffee oder Tee, den ich morgens trinke, haben Menschen im Globalen Süden tagelang zu einem Stundenlohn von unter einem Euro gearbeitet. Das ist unfair? Das ist kapitalistische Marktwirtschaft in globalem Maßstab.
Schon vor zehn Jahren habe ich das im Geographie-Unterricht gelernt. Gut 15 Jahre davor hatten sich die Vereinten Nationen bereits eingestanden, dass einiges schief läuft, und 1992 die erste weltweite “Konferenz für Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro einberufen. Und nochmal 20 Jahre davor hatte der Club of Rome eine Studie mit dem Namen “Die Grenzen des Wachstums“ vorgestellt, in der prophezeit wurde, dass stetiges Wirtschaftswachstum uns ganz schön in den Schlamassel reiten würde und es eine radikale Kehrtwende brauche: „(…) neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen“, schrieben die mit der Studie beauftragten Ökonomen Anfang der 1970er.
Fast 50 Jahre später ist die Situation weitaus verzwickter, der Klimawandel in manchen Teilen der Erde unübersehbare Realität, genau wie Armut, Hunger, Epidemien und Konflikte.
Grünes Wachstum vs. Postwachstum
Was also tun? Hier scheiden sich die Geister. Die einen wollen weiteres Wachstum, aber nachhaltig, auf eine sozial und ökologisch verträgliche Weise. Die anderen glauben, dass das nicht geht, und wollen sich vom Wachstumskonzept ganz verabschieden.
Hinter dem sogenannten “Grünen Wachstum“, das unter anderem von der Bundesregierung angestrebt wird, steht die Idee, Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Effizientere Technologien sollen ermöglichen, dass immer weniger Ressourcen bei gleicher Wirtschaftsleistung eingesetzt werden müssen. Ohnehin, heißt es, verschiebe sich unsere Wirtschaft immer mehr vom industriellen Sektor in den Dienstleistungs- und Informationssektor. Also, weg von der dreckigen Kohle, rein in die smarte Welt 4.0! Die Kreativität scheint bei manchen grenzenlos, wenn es darum geht, das kapitalistische System beizubehalten.
Ich gehöre zu den anderen. Ich glaube nicht an grünes Wachstum. Solange wir gesamtwirtschaftlich wie individuell dem Mantra des „höher, schneller, weiter“ folgen, sehe ich nicht, dass wir unseren Ressourcenverbrauch in dem notwendigen Maß reduzieren werden. Smarte neue Geräte mögen vielleicht mit jeder Serie effizienter sein, dafür haben wir viel mehr davon und nutzen sie in zunehmendem Maße. Heißt: mehr Verbrauch, mehr Energiebedarf, mehr Abfall. Deutschlands Treibhausgas-Emissionen sinken zwar in den letzten Jahren, aber teilweise kaum merklich. Wollen wir den Klimawandel wirklich aufhalten, braucht es jedoch einen entsprechenden Systemwandel.
Ich bin überzeugt davon, dass ein Wandel unseres Wirtschaftens, unseres Denkens und unseres Umgangs mit diesem einzigartigen Planeten möglich ist. Und es gibt ja auch Anlass zur Hoffnung. Die Fridays for Future haben gezeigt, wie viel eine Jugendbewegung(!) innerhalb nur eines Jahres anstoßen kann: Das Klima ist wieder in den Schlagzeilen. Die Leute wollen jetzt Lösungen präsentiert bekommen. Und es gibt sie, diese Lösungen. Ökonominnen wie Kate Raworth formulieren seit Jahren Vorschläge für eine Wirtschaft, die Mensch und Umwelt vor Profite stellt. Und Pioniere und Aktivistinnen erproben solidarische Lebensweisen, die nicht zu Lasten der Umwelt oder nachfolgender Generationen gehen. Dabei zeigt sich: Es gibt nicht den einen Weg in ein neues, besseres System. Viele Wege sind möglich. Wir müssen sie nur gehen.
Das Thema ist nicht einfach und kaum in so einem kurzen Artikel abarbeitbar:
Postwachtum – ja
Aber wir brauchen auf der anderen Seite auch gigantisches Wachstum beim ÖV und allgemein bei der Transformation unserer Wirtschaft.
Und wir brauchen ein Wirtschaften in Deutschland und der EU, das auf den Rest des Globus übertragbar ist. Und das Ganze CO2-frei (weitgehend) bis spätestens 2035.
Privates Unternehmertum – auf jeden Fall.
Aber nicht in Form von Aktiengesellschaften, in denen immer weniger Kapitalgeber das Sagen haben und überhaupt keinen Bezug mehr zu Angestellten und keine Verantwortung für das Produkt haben.
–> Deshalb: Weg vom Neo-Liberalismus und hin zu nicht-monetären Zielen, die nur durch Ordnungspolitik vorgegeben werden können: Kreislaufwirtschaft und CO2-Reduzierung bis auf Null begleitet von einer gesamt-gesellschaftlichen Diskussion durch Bürger-Foren, wie sie von Extinction Rebellion und Mehr Demokratie e.V. vorgeschlagen werden.
Lieber Albrecht Kern,
ich freue mich über Ihren Kommentar. Und ich bin auch Ihrer Meinung, dass das Thema in einem so kurzen Artikel kaum abzuarbeiten ist. Gerne hätte ich noch ein paar der Lösungswege näher beschrieben, die ich am Ende kurz erwähnt habe. Dazu gehören nämlich wie Sie schon schreiben u.a. der Ausbau des ÖPNV oder auch die Demokratisierung der Wirtschaft. Ich habe mal für das Medium Perspective Daily ein bisschen ausführlicher über 5 Ideen geschrieben, wie es ohne Wachstum weitergehen kann. Lesen Sie gerne mal rein: https://perspective-daily.de/article/712/OmxwApNk
Herzliche Grüße,
Leonie Sontheimer