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DebatteVertrauen die Deutschen auf den Nutzen von Streiks?

Von Wiebke Johanna Jung / 28. April 2023
picture alliance / imageBROKER | Isai Hernandez

Faire Bezahlung, angemessenere Arbeitszeiten – gestreikt wird für bessere Arbeitsbedingungen. Zumindest aus Sicht der betroffenen Arbeitnehmer*innen. Für andere bedeutet das mitunter: Nichts geht mehr.

Am 27. März 2023 stand beinahe der gesamte deutsche Fern- und teils auch Nahverkehr still, als die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die Vereinte Dienstleistungsgesellschaft (ver.di) in Warnstreik getreten sind. Allein 380.000 Flugreisende hätten, so die Tagesschau, nach Angaben des Flughafenverbands Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsflughäfen (ADV) ihre Reise nicht antreten können. Von einem „Super-Warnstreik“ war die Rede.

In Deutschland ist das Recht zu Streiken ein Grundrecht. In der Rechtsprechung besteht Einigkeit, dass das Streikrecht speziell als Mittel zum Zweck des Abschlusses von Tarifverträgen geschützt ist. Laut Artikel 9 des Grundgesetzes kann Streiken weiteren Bedingungen unterliegen, die sich aus Fragen der Verhältnismäßigkeit, der Gemeinwohlbildung und kollidierender Verfassungsgüter ergeben. Was jedoch nach Grenze klingt, wirkt manchmal in die entgegengesetzte Richtung: So rechtfertigt das Mittel der Stilllegung des Fernverkehrs zur Steigerung des Lohnes, dass Millionen Menschen nicht zur Arbeit kommen oder andere gegebenenfalls vor schwerwiegende Herausforderungen gestellt werden.

Politische Streiks sind illegal

Nicht ohne Grund wird auf Streiks als stärkstes Mittel im Arbeiter*innenkampf vertraut. Wobei Arbeiter*innen-Aufstände als Vorläufer gelten. Der wohl bekannteste historische Streit auf (einstigem) deutschem Gebiet ist der Aufstand der Weber in Schlesien im Jahr 1844. Wegen Überproduktion im Textilgewerbe befürchtete man Lohnkürzungen und ging auf die Barrikaden.

Im Zuge der Industrialisierung entwickelte sich die Technik rasant – an menschenwürdigen Arbeitsbedingungen mangelte es weiterhin. Obwohl Arbeitsniederlegungen mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden konnten, kam es immer häufiger zu Streiks. Als einer der ersten großen gilt derjenige der Buchdrucker 1873. Dieser erzielte den ersten Flächentarifvertrag in der deutschen Geschichte.

Nicht nur Arbeitsniederlegungen aus arbeitsrechtlichen Gründen gab es: In der BRD kam es am 12. November 1948 zu einem politischen Generalstreik über die weitere Systemausrichtung im Land. In Frankreich und Spanien gibt es auch heute politisch motivierte Streiks. In Deutschland gelten seit einer gerichtlichen Auseinandersetzung in Folge des sogenannten Zeitungsstreiks im Jahre 1952 politische Streiks dagegen als illegal.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) teilt die Streikgeschichte in Phasen. 1945 bis 1949: Tarifrecht, Arbeitskämpfe und Tarifverträge; 1950 bis 1959: Tarifverhandlungen und erste Streiks; 1960 bis 1969: Streiks in der Metallindustrie; 1970 bis 1979: Arbeitskämpfe im Öffentlichen Dienst und für die 35-Stunden-Woche; 1980 bis 1989: Arbeitszeitverkürzung und qualitative Tarifpolitik; 1990 bis 1999: Kampf für Tarifeinheit in Ost und West; 2000 bis 2019: Angriffe auf die Tarifautonomie. So gesehen könnte man eher von mehr denn von weniger Streiklust unter Deutschen sprechen.

Historisch waren Streiks meist mit dem industriellen Sektor verbunden. Mittlerweile finden sie im Dienstleistungssektor statt. Dazu zählen nicht bloß Lokführer*innen und Pilot*innen, auch im Erziehungssektor kommt es immer wieder zu Arbeitsniederlegungen. Einfach so „alles lahmlegen“ können Arbeitnehmer*innen jedoch nicht. Der Arbeiter*innenkampf folgt klaren Regeln und Abläufen.

Wie geht Streiken?

Bevor es zu einem Streik kommt, stehen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband bereits in Verhandlungen für einen (neuen) Tarifvertrag. Bei Uneinigkeit können Arbeitnehmer*innen versuchen, mit Warnstreiks Druck auf die Gegenseite auszuüben. Bleiben diese ohne Wirkung (während die fortgeführten Verhandlungen trotz Schlichtungsverfahren scheitern), können die Arbeitnehmer*innen den Druck erhöhen: mit einem unbefristeten Streik. Dafür muss eine Urabstimmung abgehalten werden, bei der sich 75 Prozent der abstimmenden Mitglieder für die Arbeitsniederlegung aussprechen müssen. Theoretisch können Arbeitgeber*innen als Gegenmaßnahme alle Beschäftigten von der Arbeit aussperren – auch die, die arbeiten wollen. Praktisch kommt dieses Mittel aber kaum zur Anwendung.

Entsprechen bei einer weiteren Urabstimmung 25 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder dem Verhandlungsergebnis, ist der Streik beendet. Oder auch wenn die Gewerkschaft ihn für beendet erklärt. Nach der Einigung besteht Friedenspflicht. Solange der ausgehandelte Tarifvertrag gilt, darf nicht mehr gestreikt werden.

Die grundsätzliche Prämisse lautet: Nur Streiks, die von Gewerkschaften organisiert sind, sind erlaubt. Zwar mögen “wilde“ Streiks als rechtswidrig gelten, dennoch gibt es die Möglichkeit, dass sie im Nachhinein von Gewerkschaften “übernommen“ werden. Ausgeschlossen vom Streikrecht sind Beamt*innen (z.B. Polizist*innen, Richter*innen, Lehrer*innen). Gewerkschaften sehen das Streikverbot bei Lehrer*innen allerdings kritisch. Und aktuell befasst sich sogar der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte damit.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass in Deutschland durch Streik grundlegende Rechte und bessere Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer*innen vertrauenswürdig durchgesetzt werden können. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung haben Streiks somit einen festen Platz. Wie sie bewertet werden, steht auf einem anderen Blatt. Rund 55 Prozent der Deutschen Bevölkerung hat nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov Verständnis für Streiks – eine knappe Mehrheit, die das Debattenpotential dieser Thematik hervorhebt.



Eine Antwort zu “Vertrauen die Deutschen auf den Nutzen von Streiks?”

  1. Von Marla am 23. Mai 2023

    Würde es von Anfang an fairer zugehen, bräuchten wir keine Streiks.

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