ContraStreit um Streiks
Tarifverträge, Krankengeld, Arbeitsschutz und vieles mehr: Die Deutschen verdanken vergangen Arbeitskämpfen sehr viel. Aber sie streiken vergleichsweise selten. Was ist da los?
Streik: ein Wort, das spätestens seit dem 27. März 2023 viele beschäftigt. An diesem Tag organisierten die Gewerkschaften Ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) und EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft) mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern einen der größten Warnstreiks Deutschlands. An über 1.700 Orten fanden sich mehr als 23.000 Streikende in der gesamten Republik zusammen, um für ihre Rechte einzutreten.
Dennoch scheinen die deutschen Bürger*innen im Vergleich zu ihren belgischen, französischen oder spanischen Nachbar*innen dem Konzept Streik eher verhalten gegenüber zu stehen. In einer Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung 2022 wurde die Anzahl der jährlich durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage in verschiedenen westlichen Ländern verglichen, wobei Deutschland auf dem zehnten von achtzehn Plätzen landete. Wie kommt es, dass deutsche Arbeitnehmer*innen augenscheinlich so selten streiken? Sie vertrauen offenbar nur bedingt auf den Nutzen ihres Rechts.
Deutsche trauen dem Ganzen nicht
Einer der Gründe ist wahrscheinlich das deutsche, im Grundgesetz geregelte Streikrecht selbst. Dort, so heißt es, hat jede*r Bürger*in das Recht, Vereinigungen zu gründen, um die eigenen Arbeitsbedingungen zu wahren und zu schützen. Dies ist im Grunde für alle Berufe – Beamt*innen ausgenommen – gewährleistet. So weit, so einladend.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Streiken darf man nur, wenn es darum geht, arbeitsrechtliche Tarifverträge abzuschließen. Politische Streiks sind in Deutschland eigentlich illegitim, können allerdings je nach Situation stattfinden, ohne bestraft zu werden. 2007 beispielsweise rief die IG Metall zu einem Streik gegen die Rente mit 67 auf, woran sich fast 300.000 Menschen beteiligten.
Tarifbindungen, also die Bindungen der Arbeitgeber*innen und -nehmer*innen an den gemeinsam erarbeiteten Tarifvertrag, variieren international betrachtet sehr. Während 2019 in Frankreich 98 von 100 Beschäftigte in Betrieben mit Tarifverträgen arbeiteten, betrug die Anzahl in Deutschland nur 57 von 100.
Bemerkenswert im deutschen Streikrecht: Streiken steht nur den Gewerkschaften zu. Um auf diese Weise für die eigenen Arbeitsbedingungen einstehen zu können, müssen Arbeitnehmer*innen einer solchen Vereinigung angehören. Ein Schritt, den nicht alle Angestellten gehen wollen und somit für die Mitgliedersuche der Gewerkschaften ein Hindernis darstellen kann. Auch kostet die Mitgliedschaft in Gewerkschaften manchmal Geld. Bei IG Metall und ver.di zahlen Voll- und Teilzeitbeschäftigte beispielsweise 1 Prozent ihres Bruttogehalts – pro Monat. In Zeiten der Inflation ist das nicht unbedingt wenig.
Unmut und Frust der Betroffenen
Klar ist jedoch, dass Betroffene der Streiks häufig nicht die Arbeitgeber*innen direkt sind, auch wenn diese dabei Geld verlieren und die Aktionen ihrem Ruf schaden können, sondern eher die Bürger*innen, die oft auf die streikenden Arbeitnehmer*innen angewiesen sind. Es gibt Kritiker*innen, die bezweifeln, dass Streiks, insbesondere im Bereich öffentliche Versorgung, die geeignete Maßnahme seien, um bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Diese Auffassung führt zu Unmut in der Bevölkerung über streikende Bahnangestellte oder Postmitarbeiter*innen, wenn diese ihre Tätigkeiten niederlegen. Auf den Straßen Münchens herrschte am 27. März 2023 ein Verkehrschaos, da viele Bahnfahrer*innen auf Taxis umsteigen mussten. Die Stimmung war schlecht, der Ärger groß, die Fahrten teuer. Hinzu kam der Frust der Taxifahrer*innen selbst, die sich mit der ganzen Situation überfordert sahen.
Am Bahnhof Essen wurden Bürger*innen von einer regionalen Zeitung befragt: Es nerve nur noch, die Unbeteiligten seien die Leidtragenden, hieß es da. Leser*innen fanden noch härtere Worte in den Kommentarspalten auf Social Media: Es reiche und kotze einen nur noch an, lautete das Fazit. Tatsächlich hielten bei einer Online-Abstimmung nur 29 Prozent den großen Warnstreik für gerechtfertigt. 64 Prozent fanden die Maßnahme für übertrieben.
Fazit: Streiken ist nicht umsonst, lohnt aber nicht immer
Es gibt nicht nur einen Grund, weshalb es in Deutschland – im internationalen Vergleich – nicht allzu oft zu Streiks kommt. Neben plausiblen Gründen, wie Angst vor negativen beruflichen Konsequenzen durch arbeitskampfbedingte Ausfalltage, können Unlust oder Trott die Kampfbereitschaft verringern. Auch ist das Streikrecht in Deutschland strikt geregelt und die Hürden für manche Menschen eventuell zu hoch: Streiks folgen klaren Abläufen; so muss eine Zentrale Arbeitskampfleitung gegründet werden, die den Streik ausruft, dem dann die Arbeitnehmer*innen folgen können. Sollten Arbeitnehmer*innen während des Streiks finanzielle Schwierigkeiten bekommen, dürfen sie kein Arbeitslosengeld oder Kurzarbeitsgeld beantragen. Streikdemonstrationen müssen immer vorher angemeldet werden. Werden Arbeitnehmer*innen während eines Streiks krank, so bekommen sie nur Krankengeld und keine Entgeltfortzahlung. Und und und…
Neben Unannehmlichkeiten fallen auch eigene negative Konsequenzen für die Allgemeinheit ins Gewicht bei der Bewertung von Streiks. Zwar teilen viele Menschen die grundlegenden Werte, über die verhandelt wird. Für sie scheinen aber die persönlichen Konsequenzen infolge von Arbeitskämpfen größer als der Schaden, der durch unlautere Arbeitsbedingungen an der Tagesordnung steht und der die Gesellschaft mit Blick auf die Personallücken im Gesundheitssystem sogar härter treffen kann. Lohnen sich Streiks also nicht? Aus deutscher Sicht zumindest nur dann, wenn sie nicht umsonst gewesen sind.