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Zwischen Rhetorik und Realität

Von Jonas Freist-Held / 9. Oktober 2015
Foto: Jonas Freist-Held

Die Flüchtlingskrise drängt in die spanische Öffentlichkeit. Die Zivilgesellschaft zeigt Solidarität und zelebriert eine offene Willkommenskultur. Bisher alles nur Symbolik, denn Flüchtlinge gibt es in Spanien fast keine. Die Regierung erweckt nicht den Eindruck, daran etwas ändern zu wollen. Sie gibt sich mit ihrer Leistung zufrieden. Die politische Diskussion über die richtige Reaktion kocht.

Die Flüchtlingskatastrophe drängt sich in Spanien immer mehr in den Vordergrund. Neben der Diskussion über die Zukunft Kataloniens ist sie das meistdiskutierte europapolitische Thema. Nach einigem Zögern hat die spanische Regierung unter der Partido Popular (PP) der neuen Quotenregelung der Europäischen Union zugestimmt. „Es hat gedauert, aber Spanien steht zu seiner europäischen Solidarität“, sagt Carlos Carnero, Geschäftsführer des spanischen Think-Tanks Fundación Alternativas. Andere Länder wie Ungarn verhielten sich nicht so positiv wie Spanien.

„Internationaler Druck war nötig, um die Regierung zu überzeugen“, erzählt Domènec Ruiz Devesa, politischer Berater der Delegation der Partido Socialista Obrero Español (PSEO) im europäischen Parlament. Der spanische Regierungschef Manuel Rajoy habe einen Termin mit Merkel gehabt und verkündete nach seiner Rückkehr nach Spanien die Annahme der Quotenregelung. Teile der spanischen Gesellschaft und der Medien hätten über Rajoy gespottet. Erst Merkel müsse Rajoy dazu bringen, etwas zu tun, was die spanische Gesellschaft ohnehin befürworte.

Die spanische Kultur der Offenheit

„In Spanien ist Solidarität ein hohes Gut“, sagt Ruiz Devesa. Die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen sei sehr positiv. „Wir haben keine Probleme mit Rassismus oder Xenophobie.“ In Spanien gibt es keine politische Kraft, die gegen Immigration mobilisiert. Almudena Fontecha, Exekutivsekretär für Chancengleichheit bei der Arbeitergewerkschaft UGT, rief in einer Pressemitteilung die spanische Bevölkerung dazu auf, die Flüchtlinge willkommen zu heißen und erinnerte dabei an die spanische Geschichte der Migration während des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur.

„Wegen dieses Geschichtsbewusstseins gibt es in Spanien eine Kultur der Offenheit“, sagt Felipe Ponce Garcia, Abgeordneter der PSOE in der Kommune Madrid. Nach den letzten Kommunal- und Regionalwahlen Anfang des Jahres gab es in vielen Teilen Spaniens einen Linksruck. Große Städte wie Madrid, Barcelona, Saragossa oder Cadíz werden jetzt von progressiven Linkskoalitionen regiert. Diese möchten Spanien als weltoffenes Land präsentieren. Symbolisch dafür prangt vom Madrider Rathaus ein Banner mit der Aufschrift „Refugees Welcome“.

Der erste Eindruck trügt gewaltig

Das sind Eindrücke, die auf den ersten Blick über die Realität des spanischen Umgangs mit der aktuellen Flüchtlingskrise hinwegtäuschen. Bei einem Besuch im spanischen Parlament spricht Juan Moscoso, europapolitischer Sprecher der PSOE-Parlamentsfraktion, Klartext: „In Spanien gibt es keine Flüchtlinge. Die Menschen in Spanien haben die Präsenz von Flüchtlingen bisher gar nicht erlebt.“ Die Gesellschaft reagiere mit Solidarität und mit viel Empathie auf die Bilder toter Flüchtlingskinder in den Medien.

Zahlen der spanischen Flüchtlingsorganisation CEAS belegen die Aussagen. 626.065 Menschen wurde bisher Asyl in der Europäischen Union gewährt. Davon entfallen 5.947 erfolgreiche Asylanträge auf Spanien. Das sind 0,001 Prozent. Im Vergleich: Deutschland hat mit 202.645 Asylanträgen mit Abstand am meisten Menschen ein Bleiberecht gewährt. Auch Schweden ist mit 81.180 akzeptieren Anträgen vorne dabei.

Quelle: CEAS
Erfolgreiche Asylanträge in Europa. Quelle: CEAS

Nach der neuen Quotenregelung der EU nimmt Spanien 15.000 Flüchtlinge auf. Estrella Gálan Perez ist Geschäftsführerin von CEAS, der größten spanischen Organisation, die sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Sie sagt: „Spanien kann das schaffen.“ Pro 10.000 Einwohner müsse Spanien nur drei Flüchtlinge aufnehmen. Mit dem Quotensystem sei ein wichtiger Zwischenschritt erreicht. Aber das sei erst der Anfang. Sie kritisiert die bisherige Praxis der Regierung.

Die Erfolgsquote von Asylanträgen in Spanien belief sich im vergangenen Jahr auf 43 Prozent. Zieht man davon die syrischen Flüchtlinge ab, haben nur etwa neun Prozent Erfolg. „Viele Anträge von Flüchtlingen aus Mali, der Zentralafrikanischen Republik oder der Ukraine verschwinden bei den Behörden in einer Schublade“, sagt Galán Perez. Man warte darauf, dass sich das Problem von selbst löse.

Aus dem Umfeld der PP heißt es, man brauche eine geordnete europäische Lösung der Flüchtlingskrise. Man müsse die Abkommen mit den Transitstaaten der Flüchtlinge verstärken und effektive Rückführungsmechanismen etablieren. Illegale Migration müsse verhindert werden. Aber eines sei auch klar: wer in Europa ist, muss sich auf die Einhaltung der Menschenrechte verlassen können. Solidarität sei ein wichtiges europäisches Gut.

Moscoso kritisiert die Haltung der Regierung. Mit der Aufnahme von 15.000 Flüchtlingen denke sie, sie habe ihre Pflicht erfüllt. Das gäbe den Menschen ein gutes Gefühl. „Spanien fühlt sich nützlich, aber in Realität ist es das nicht.“ Die wirkliche Herausforderung entstehe, wenn die Menschen in ihrem Alltag mit der Flüchtlingskatastrophe konfrontiert würden, wenn Flüchtlinge in die Nachbarschaft zögen und plötzlich Flüchtlingslager entstünden. „Erst dann zeigt sich, wie weit her es mit der Solidarität der spanischen Gesellschaft wirklich ist.“ Ohnehin glaube er nicht, dass viele Menschen nach Spanien kämen.

In Spanien ist man sich bewusst, dass das Land bisher nicht sonderlich attraktiv für Flüchtlinge ist. Das hat zwei Gründe: die anhaltende wirtschaftlichen Krise vermittelt nach außen nicht gerade ein prosperierendes Land und die spanische Regierung unternimmt nicht viel, um die Bedingungen für Flüchtlinge zu verbessern. Ohnehin sei klar: Alle wollen nach Deutschland. Vor der Leistung der deutschen Regierung hat man reichlich Respekt. Merkels Engagement sei beeindruckend.

Spanien schottet sich ab

Zu Besuch in der Fundación Alternativas: Carlos Carnero bezweifelt stark, dass Spanien überhaupt in der Lage wäre, viel mehr Flüchtlinge als jetzt vorgesehen aufzunehmen. Man müsse humanitäre Bedingungen bieten: eine Unterkunft, einen Job, Gesundheitsversorgung, Bildungsangebote. Das alles koste Geld und sei für Spanien schwierig zu stemmen. Mit einer anhaltenden Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent sei es auch schwierig Flüchtlingen eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt zu bieten.

„Spanien liegt gar nicht auf der Route der Flüchtlinge“, sagt Carnero. Nicht mehr, müsste man sagen. Seitdem Spanien seine Grenze in der spanischen Enklave Melilla in Nordafrika militärisch abgesichert hat, weichen die Flüchtlinge auf andere Routen aus. Sechs Meter hohe Zäune, Stacheldraht und Wachpersonal machen einen Asylantrag über die spanische Grenze fast unmöglich. Über die West-Balkan-Route über Serbien und Ungarn kamen nach Daten von Frontex zwischen Januar und September 2015 204.630 Flüchtlinge nach Europa, über die östliche Mittelmeerroute über Griechenland gar 359.171. Über die westliche Mittelmeerroute über Spanien waren es im gleichen Zeitraum gerade einmal 9.220 Menschen.

Immer wieder gibt es Berichte über Misshandlungen und Todesfälle an der spanischen Grenze in Melilla. Die mediale Aufmerksamkeit habe sich durch die aktuellen Entwicklungen nach Osteuropa und Deutschland verschoben. Die Probleme an der spanischen Grenze würden gar nicht mehr thematisiert, sagt Galán Pérez. Sie fordert mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten. „Die Toten an den europäischen Grenzen sind Opfer internationaler Kompromisse.“

Sechs Millionen Menschen befinden sich auf dem Weg in die Europäische Union. Allein aus Syrien sind über vier Millionen Menschen geflohen, viele in die Nachbarländer. „Die Alternative zu legalen Einwanderungsmöglichkeiten sind Schlepper und noch mehr Tote“, macht Galán Pérez klar. Man brauche humanitäre Korridore, die die sichere Einreise über Konsulate oder Botschaften ermögliche. Die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen durch die EU ist erst der Anfang. „Es werden mehr kommen“, sagt Galán Pérez.

Nach Worten, Taten sprechen lassen

In Spanien wird über ein Problem diskutiert, dass im Land selbst noch gar nicht präsent ist. Durch den Druck der Zivilgesellschaft und der Europäischen Union ist die spanische Regierung gezwungen, sich mit der Herausforderung auseinanderzusetzen. Die praktische Umsetzung von Hilfsmaßnahmen seitens der Regierung verläuft langsam. Oft wird mit dem Finger auf andere gezeigt, die noch weniger Engagement an den Tag legen. Aber das Thema beschäftigt den politischen Diskurs in Spanien. In die Debatte kommt Bewegung. Die PSOE fordert eine pro-aktivere Auseinandersetzung mit der Flüchtlingskrise.

Man darf aber auch nicht vergessen, dass Spanien Anfang der 1990er Jahre bis vor der Krise fast fünf Millionen Arbeitsmigranten aus Nordafrika, Rumänien und Lateinamerika erfolgreich integriert hat. Während des spanischen Wirtschaftsbooms gab es reichlich Arbeit und die Menschen wurden in Spanien willkommen geheißen. „Das war eigentlich kein Thema“, erzählt Michael Ehrke, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Madrid. Auch wenn sich die Situation heute geändert habe, könne man auf diesen positiven Erfahrungen aufbauen.

„Nur mit einer kohärenten europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik kann letztendlich die Krise in Europa gelöst werden“, sagt Galán Pérez. Durch eine Harmonisierung der Leistungen in allen EU-Mitgliedstaaten könne man Flüchtlinge dazu bewegen, sich relativ gleichmäßig über die EU zu verteilen. Wenn Flüchtlinge nicht nach Spanien wollten, könne man sie nicht dazu zwingen. Es sei Aufgabe des spanischen Staates, Bedingungen zu schaffen, dass die Menschen von sich aus nach Spanien kämen.

Die spanische Gesellschaft scheint bereit. Zeit für die Politik, sie herauszufordern.

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