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Sehen und Gesehenwerden: Foucaults Gefängnisse

Von Alexander Kloß / 29. April 2020
picture alliance / Caro | Waechter

“Die ganze Welt ist ein Knast und alle Frauen und Männer bloße Knackis”, so (oder so ähnlich) schrieb einst der große Shakespeare. Aber wieviel ist dran an dieser kühnen These? Michel Foucaults Philosophie gibt dazu einige Denkanstöße.

Vor einigen Tagen ließ ein CNN-Artikel die ein oder andere Stirn runzeln: Im US-Bundesstaat New Jersey wurden 700 Häftlinge vorzeitig entlassen, um die Verbreitung des Coronavirus in den dortigen Gefängnissen einzudämmen. Was eigentlich nach einem großen Glücksfall für die Gefangenen klingt, war für einige der Betroffenen das glatte Gegenteil. John Mele, einer der Beglückten, sah sich plötzlich mit einer Freiheit konfrontiert, die ihm vor allem seine Unfreiheit verdeutlichte: Ohne Krankenversicherung und Wohnung führte ihn sein Weg vom Gefängnis direkt ins Obdachlosenheim – ein weiterer Hotspot für Neuinfektionen. Mele aber zieht das organisierte Gefängnis dem unübersichtlichen Obdachlosenheim vor, und würde nach eigener Aussage sogar eine kleinere Straftat begehen, um genau wieder dorthin zu gelangen. Am Ende gelang es Mele, Zuflucht in einem Hostel zu finden, was nun aufgrund der Pandemie allerdings auch nur zu einer etwas größeren Zelle verkommen ist.

Nicht nur im derzeitigen Ausnahmezustand fällt die Reintegration in die Gesellschaft vielerorts schwer. Ein Gefängnisaufenthalt hinterlässt Spuren – im sozialen Umfeld, in der Psyche, im für Jobinterviews so relevanten Lebenslauf. Überraschend dabei: Die Entlassung in die Außenwelt scheint keinem Unterschicht wie Tag und Nacht zu entsprechen, sondern vielmehr einem Übergang in eine andere, größere Art von Gefängnis mit ganz eigenen Regeln und Strukturen.

Der Gedanke, dass die Idee des Gefängnisses weit über die Grenzen der eigentlichen Haftanstalt hinausgeht, ist nicht neu. 1975 veröffentlichte der französische Philosoph Michel Foucault unter dem Titel “Surveiller et punir” (dt. Titel: “Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses”) eines seiner Hauptwerke. In ihm skizziert er die Geschichte des französischen Strafsystems, von der Folter im 18. Jahrhundert bis hin zum Status quo. Foucaults Abhandlung ist chronologisch aufgebaut und in vier Abschnitte mit entsprechend programmatischen Namen gegliedert: Folter, Bestrafung, Disziplin und Gefängnis. Eines wird bei der Lektüre schnell klar: Seit der brachialen Hinrichtung von Königsmördern im Ancien Régime (das Repertoire der Strafen reichte vom Binden aufs Rad bis hin zur Hängung und Vierteilung durch Zugpferde) sind wir Menschen in Sachen zivilisierte Strafjustiz weit gekommen. Doch was für Auswirkungen hat das?

Von der Qual zur Umerziehung

Foucault machte zwei wesentliche Transformationen aus, die das Strafsystem von Grund auf veränderten: zum einen die Abschaffung der Folter als öffentliches Spektakel und zum anderen die Beseitigung des Schmerzes. Während Folter teilweise noch heute an Orten wie Guantanamo Bay praktiziert wird – sie also ins Geheime verlagert wurde –, bewirkte der Verzicht auf das Zufügen von Schmerz eine grundlegende Neuorientierung der Justiz. Zwar, betont Foucault, trägt auch eine Inhaftierung einen physischen und dementsprechend schmerzbereitenden Anteil in sich, aber das Ziel der Bestrafung wurde ein grundsätzlich anderes. Statt den Körper zu strafen, wendet sich die Justiz der Seele zu, und statt nur über die Tat zu urteilen, befindet sie nun auch über den Täter und dessen Charakter. Die Strafe ist nach Foucault nicht mehr absolut, sondern relativ und hängt nicht mehr nur vom Richterspruch, sondern auch vom Gutachten des Psychologen ab. Das Gefängnis wandelt sich somit vom Ort der Qual zum Schauplatz der Umerziehung.

Doch Umerziehung findet nicht nur hinter den sprichwörtlichen schwedischen Gardinen statt. Das moderne Gefängnis ist für Foucault vor allem durch die Disziplinierung seiner Häftlinge definiert, und diese Disziplinarmacht reicht weit über die Sicherheitszäune jeder Anstalt hinaus. Disziplinierung umfasst dabei eine Reihe von Maßnahmen, wie z.B. die Isolation und Hierarchisierung von Individuen sowie die funktionelle und temporäre Teilung ihrer Aufgaben. Zwar kommen diese Maßnahmen vorrangig im Gefängniskomplex zur Vollendung, finden aber auch Anwendung in unser aller Alltag.

So sind Schulen Erziehungseinrichtungen, und diese Erziehung impliziert stets einen gewissen Grad an Disziplinierung. Auch der klassische Arbeitsplatz ist zumeist ein streng hierarchisch angelegter Raum: Jeder Arbeiter hat einen Vorgesetzten und eventuell auch einen Untergeordneten, definiert sich somit stets in Relation zu anderen. Die Aufgabenteilung erfolgt möglichst penibel, um Produktivitätseinbußen zu vermeiden, und wer sein Soll über längere Zeit nicht erreicht, dem droht der Existenzverlust. Im militärischen Kontext sind die Parallelen gar so überdeutlich, dass Gehorsam mehr als nur bloße Pflichterfüllung gewährleistet. Von ihr hängt die Daseinsberechtigung ab.

Einsichten und Ausblicke

Die idealtypische Form des Gefängnisses geht laut Foucault auf den englischen Philosophen Jeremy Bentham zurück: das Panoptikum, ein sogenannter Rotundenbau in der Form eines kreisförmigen Bauwerks mit Wachturm in der Mitte, von welchem man in jede beliebige Zelle blicken kann, ohne dass der Gefangene auch nur erahnt, ob er gerade beobachtet wird oder nicht. Vollkommener Entzug der Privatsphäre als Mittel zur Maßregelung – ein Gedanke, der in Zeiten des “gläsernen Menschen” aktueller denn je scheint. Entsprechend vielsagend ist demnach auch die Entscheidung der Gefängnisbehörde Singapurs, ihren vierteljährlichen Newsletter “Panopticon” zu nennen.

Ist deshalb also die ganze Welt ein Gefängnis? Ja und nein. Hierarchien – und somit Freiheitsbeschränkungen – gibt es überall, wo es Menschen gibt. Ihnen völlig zu entkommen, scheint nur schwer realisierbar. Dennoch ist Institution nicht gleich Institution, sodass der Besuch eines Internats wahrscheinlich reglementierter ausfallen wird als der einer Waldorfschule, ebenso wie der gesellschaftliche Anpassungsdruck auf einem Straßenmusiker (unstetes Einkommen, geringes Ansehen) schwerer wiegen mag als auf einer Bürokraft.

Dank weitreichender Ausgangssperren scheint momentan praktisch alle Welt einem Gefängnis zu ähneln, aber der Schlüssel zur Freiheit liegt nicht etwa in der Resignation, wenn es vor allem der Ermutigung bedarf. Denn diese Form des neuerlichen Freiheitsentzugs wird eines (hoffentlich nicht allzu fernen) Tages enden, und vielleicht kommt mit seinem Ende auch ein langsames Umdenken, in welche Zwänge wir uns als Gesellschaft zukünftig begeben wollen, und welche wir lieber den Haftanstalten überlassen.

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