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Sie nennen es Arbyte

Von Adrian Breda / 25. Oktober 2017
picture alliance / Westend61 | Malte Jäger

In der Digitalen Bohème suchen Menschen berufliche Selbstverwirklichung, finden aber vorwiegend Armut und Ausbeutung. Warum tun sie sich das an?

„Beruf kommt von Berufung“, klar. Tatsächlich wird diese Phrase meist missverstanden. Denn etymologisch betrachtet geht es nicht darum, sich berufen zu fühlen, sondern berufen zu werden – nämlich von einem Arbeitgeber. Damit es zu dieser passiven Berufung kommt, hangeln sich viele erst von Praktikum zu Praktikum und dann – wenn sie Glück haben – von befristetem Vertrag zu befristetem Vertrag. Das große Ziel: die Festanstellung.

Nicht so der Digitale Bohemien. Er lebt im Internet und in trendigen Cafés, wo er als Selbstständiger ständig Selbstverwirklichung betreibt. Meist arbeitet er dabei an sogenannten Projekten, die etwas mit dem Internet zu tun haben – etwa zeitgeistigen Blogs, die etwas mit dem Internet zu tun haben.

Work it

Die beiden Publizisten Sascha Lobo und Holm Friebe haben bereits 2006 – natürlich, before it was hip – ein Buch über diese Lebensweise geschrieben: „Die digitale Bohème, das sind Menschen, die sich dazu entschlossen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dabei die Segnungen der Technologie herzlich umarmen und die neueste Kommunikationstechnologie dazu nutzen, ihre Handlungsspielräume zu erweitern“, heißt es in „Wir nennen es Arbeit“. Gemeint sind freie Journalisten, (Lebens-)Künstler, Werber oder sonstige Ideen-Haber. Wichtigstes Arbeitsinstrument ist für sie alle das Internet – daher auch der Name. Digitale Bohème.

Lobos und Friebes Argument gegen die Festanstellung: Regeln und Routinen zähmten Arbeitnehmer. Sie würden dafür sorgen, dass man nicht nur über die Witze der Chefs lacht, sondern diese irgendwann tatsächlich sogar lustig findet. Die beiden Autoren bezeichnen das ganz ernst gemeint als „schleichenden Prozess der strukturellen Verblödung“, der „über die ökonomische Abhängigkeit in die mentale führt“.

Was soll man sagen? Die beiden haben Recht, natürlich. Sonst würde ja niemand als Digital Bohemien arbeiten. Zu verlockend sind die flexiblen Arbeitszeiten, interessanten Themen und coolen Kollegen, mit denen man zeitweise zu tun hat.

Ist das noch Bohème oder schon Armut?

Trotzdem: Die Digitale Bohème als Spielart des digitalen Kapitalismus ist eher Hype als echte Revolution. Oder, in einer fragwürdigen Abwandlung des berühmten Zitates des Sozialphilosophen Max Horkheimer: Wer von Digitaler Bohème redet, darf von Prekarisierung nicht schweigen. 2016 lag der durchschnittliche Nettoverdienst derjenigen, die über die Künstlersozialkasse (KSK) versichert sind, bei gerade einmal 1.374 Euro pro Monat. Zugegeben, nicht alle in der KSK sind digitale Bohemiens – Aufnahmebedingung ist eine dauerhafte künstlerische oder publizistische Tätigkeit. Aber fast alle Digitalen Bohemiens dürften in der KSK sein.

Zusätzlich ist die Statistik insofern irreführend, als dass einige wenige sehr gut verdienende Autoren – wie vermutlich Friebe und Lobo – den Durchschnitt stark verzerren. Man darf also davon ausgehen, dass die meisten Digital Bohemiens noch weniger verdienen. Gleichzeitig hat sich die Mitgliederzahl der KSK in den vergangenen 20 Jahren auf 185.000 Versicherte nahezu verdoppelt. Das Heer der Digitalen Bohème ist jedoch nicht nur arm, sondern Symptom eines größeren Problems.

Der Kapitalismus vereinnahmt seine Umwelt und programmiert sie so um, dass sie nach seiner Logik funktioniert. Er macht dabei auch keinen Halt vor Gegenkulturen, die ursprünglich nicht nach der Logik des Marktes funktionierten. Beispiele? Durchkommerzialisierte Musikfestivals, Öko-Kult als Lifestylefaktor oder eben die vermeintliche Selbstverwirklichung als Digitaler Bohemien. War dieser in der Vergangenheit noch ein kunstinteressierter Taugenichts, der von Mäzenen finanziert wurde, ist er heute ein ultraflexibler Wissensarbeiter, für den Unternehmen (passenderweise) weder Renten-, Kranken- noch Arbeitslosenversicherung zahlen.

Die Digital Bohème tut das, indem sie die falsche Fahne der Selbstbestimmung hochhält – und am Monatsende doch die Eltern um hundert Euro bittet, weil sie sonst nichts zu essen hätte.

Schein und Sein

Digitale Bohème als gesellschaftliches Phänomen ist darüber hinaus kollektiver Selbstbeschiss. Denn wer sich ausbeuten lässt, muss das gegenüber der Umwelt und sich selbst rechtfertigen. Die Digital Bohème tut das, indem sie die falsche Fahne der Selbstbestimmung hochhält – und am Monatsende doch die Eltern um hundert Euro bittet, weil sie sonst nichts zu essen hätte. Friebe und Lobo notieren dazu lakonisch: „Nicht unwahrscheinlich, dass es sich leichter und unbekümmerter mit der Ungewissheit lebt, wenn man weiß, dass man in äußerster Not finanziell auch auf die Familie zurückgreifen kann oder ein Erbe in Aussicht stehen hat.“

Unfreiwillig komisch ist zudem die Kritik, die Lobo und Friebe in Richtung der Angestellten formulieren. „Natürlich müssen die Festangestellten ihre Situation schönreden, allein um die vielen Zumutungen und Nackenschläge, die ihr Angestelltendasein täglich bereithält, wegstecken zu können. Vor allem müssen sie gegenüber dem Rest der Welt ihr zweifelhaftes Privileg als perfektes irdisches Glück verkaufen, um nicht selbst in die Krise zu geraten.“ Was die beiden Autoren nicht sehen: Digitale Bohemiens tun das Gleiche. Der einzige Unterschied: Sie sind dabei noch ärmer.

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