TAG 1312 oder Bewegender Rassismus
Der 19. Februar 2020 – für viele Hanauer ein Tag, den sie niemals vergessen werden: T. nimmt zehn Menschen und sich selbst rassistisch und rechtsextremistisch motiviert das Leben. Auf dem Jugend-Kurzfilmfestival „Jung & Abgedreht“ in Hanau gewinnt der Film „Tag 1312“ die Auszeichnung in der Kategorie „Regionale Helden“.
Es ist ein kühler Winterabend, kurz nach 21 Uhr. T. ist in der Stadt unterwegs. Der 43-Jährige hat einen Plan gefasst – einen Plan, der zehn Menschen und sich selbst das Leben kosten wird.
Kurz vor einer Bar zückt T. zwei Schusswaffen und eröffnet ein Feuer, das Kaloyan Velkov, Fatih Saracoglu und Sedat Gürbüz tötet, und zieht weiter. Ihm folgt Vili Viorel Paun, der kurze Zeit später ebenfalls von T. erschossen wird. Als T. in einem anderen Stadtteil ankommt, erschießt er in einem Kiosk Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar. In der Shisha-Bar nebenan nimmt er Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtovic das Leben. Dann nimmt er das Auto, fährt nach Hause, erschießt dort seine Mutter und anschließend sich selbst.
Vier Jahre später sitzen Schüler:innen dieser Stadt vor der Kamera und erinnern sich zurück: Wie haben sie diesen Tag erlebt? Wie gelingt es, weiterzuleben, wenn Bekannte so plötzlich aus dem Leben gerissen werden? Und was bedeutet das alles für die Stadt und das Leben darin?
Der 19. Februar 2020 wird noch vielen Menschen in Erinnerung bleiben. Ganz besonders denen, die in der Stadt wohnen, in der das rassistisch und rechtsextrem motivierte Attentat stattfand: Hanau. Dort, wo heute das Jugend-Kurzfilmfestival „Jung und abgedreht“ stattfindet und der Kurzfilm „Tag 1312“ das Attentat thematisiert.
Bedrückte Stimmung
Der Film wurde als Initiative von einigen Hanauer Schüler:innen in den Wettbewerb eingereicht, die selbst im Film zu sehen sind. Unterstützt wurden sie vom Workshop-Programm „SPOTS“, einem von vielen deutschlandweiten Bündnissen für Filmkultur, Jugend und Demokratie, gefördert von der Deutschen Filmakademie.
„Tag 1312“ ist 7:52 Minuten lang. Alle Szenen spielen an verschiedenen Orten in Hanau, manche in der Stadt, einige in einem Schulgebäude. Schüler:innen und auch eine Lehrerin sitzen vor der Kamera. Die Fragen, die sie gestellt bekommen, sind nicht zu hören, nur ihre Antworten. Sie wirken bedrückt, während sie sich diesen Tag im Februar 2020 in Erinnerung rufen. Es ist nichts gespielt, es handelt sich um echte, ungescriptete Interviews.
Der Film bedient sich keiner Hintergrundmusik. Zu hören sind nur die Geräusche, die in den Anfangsszenen zu sehen sind: Ein Kehrwagen, Gesprächsfetzen von Passant:innen, das übliche Treiben in Hanau, Vogelgezwitscher. Das Leben ist weitergegangen – zumindest für alle, die nicht gestorben sind.
Die Schüler:innen sowie die Lehrerin erzählen, dass der 19. Februar 2020 für sie anfing, wie jeder andere Tag auch – eine war am Abend zum Spazierengehen verabredet, eine andere zum Boxen in dem Boxclub, in dem auch Ferhat Unvar, eines der späteren Opfer, trainierte. Die Lehrerin wollte mit weiteren Lehrer:innen und Austauschschüler:innen aus Frankreich in ein Restaurant essen gehen. Als sie weitererzählt, dass sie ein Kind im Alter eines der Opfer hat, bricht sie in Tränen aus.
Angst, Wut und das Hinterfragen
Eine Schülerin erzählt davon, dass sie am Abend gar nicht mitbekommen habe, was passiert ist. Als ihre Mutter sie am Morgen danach beim Aufwecken informiert, wird ihr das Ausmaß an Gewalt in ihrer Nähe bewusst. Daraufhin durfte sie selbst entscheiden, ob sie in die Schule gehen wolle oder nicht, erzählt sie.
In vielen Klassen ist der Amoklauf Thema gewesen – im Stuhlkreis im Gespräch mit den Lehrer:innen oder in den Pausen untereinander. „Wir haben über nichts anderes mehr geredet“, berichtet ein Mädchen.
Auch die Angst wird offen angesprochen, die Schüler:innen und Eltern in den Tagen danach gefühlt hätten, wenn sie auf der Straße unterwegs gewesen wären. Vor allem, als herausgekommen sei, dass es sich um eine rassistisch motivierte Tat gehandelt habe. „Ab dem Zeitpunkt hat sich mein Leben komplett geändert – meine Sichtweise auf die Stadt Hanau und allgemein auf mein Leben und auf mich als Mensch in Hanau.“ Ins Leben und in den normalen Alltag zurückzufinden, sei ihr sehr schwergefallen.
„Zu Hause haben meine Schwester und ich mit meiner Mutter viel über den Anschlag gesprochen“, erzählt eine weitere Schülerin. „Weil der Anschlag ja rassistisch war – und ich bin ja Asiatin –, sollten wir einfach ein bisschen vorsichtig sein, hat sie gesagt.“
Wie geht dieses „Weitermachen“?
Auch wird die „Initiative 19. Februar“ erwähnt, die von einem Überlebenden des Anschlags gegründet wurde und dafür sorgt, dass sich die Hanauer weiterhin an den Jahrestagen versammeln, gemeinsam demonstrieren. Sie spendet Hoffnung und Aufklärung für die Bürger:innen und die Stadt. „Tag 1312“ ist ein Film über das Weitermachen und das Erinnern, auch wenn Vergessen manchmal einfacher wäre. Am Ende werden die Namen eines jeden Opfers eingeblendet.
Insgesamt ist der Film sehr aufwühlend – auch für Nicht-Hanauer:innen. Er spielt mit Emotionen, mit Wut, Angst und Betroffenheit, besticht durch die Erzählungen von Schüler:innen und Lehrerin in seiner sehr authentischen Art. Durch wenig Nachbearbeitung und eine überschaubare Anzahl an Schnitten lässt „Tag 1312“ viel Raum, sich während des Anschauens viele eigene Gedanken zu machen, auf eigene Gefühle beim Schauen zu achten und zu interpretieren.
Technisch ist „Tag 1312“ sehr einfach gehalten. Es wird offensichtlich mit einer Kamera gearbeitet, die qualitativ nicht zu vergleichen ist mit hochwertigen Filmkameras und doch braucht der Film diese gar nicht. Ruhige Einstellungen und Worte alleine reichen, um das Erinnerte lebendig wirken zu lassen.
„Der Anschlag gehört jetzt zu Hanau, er ist ein Teil davon“
Durch klug gesetzte Schnitte erzeugt der Erzählstrang einen auch nach Jahren klar verständlichen roten Faden und führt durch den Tag des Anschlags, das Leben danach und wie Hanauer heute damit umgehen. Der Ausblick mit der erwähnten „Initiative 19. Februar“ zeigt gleichzeitig, dass die hessische Großstadt nie mehr sein kann, was sie war. Er vermittelt aber auch den stillen Schrei danach, diese Rückblicke nicht nur in Hanau weiterhin stattfinden zu lassen, sondern in ganz Deutschland. Weil Rechtsextremismus und Rassismus überall vorhanden und überall gefährlich sind.
„Der Anschlag gehört jetzt zu Hanau, er ist ein Teil davon“, als Satz einer der Schüler:innen zeigt, warum „Tag 1312“ die Auszeichnung der Kategorie „Regionale Helden“ verdient hat – weil ein Geschehnis eine Stadt und die Menschen darin so sehr geprägt hat, dass es sie heute noch, Jahre danach tief beschäftigt. Gleichzeitig werden politische sowie gesellschaftliche Ebenen gezogen und die Zuschauer:innen fast wie selbstverständlich, aber nur indirekt aufgefordert, ihre eigene Einstellung zu reflektieren.
Der einzige Kritikpunkt bezieht sich auf den Filmtitel. „1312“ steht für ACAB – „All cops are bastards“. Wieso dieser Titel gewählt wurde, wird nicht erklärt. Trotz dessen: Es ist ein Film, der an Reife und Einfühlungsvermögen nicht zu überbieten ist, vor allem, wenn man das Alter der Filmmachenden bedenkt.
Toller Text, der zum Nachdenken anregt. Danke, dass du die Opfer namentlich nennst und damit dazu beiträgst, dass sie nicht vergessen werden.