Und täglich grüßt die Unruhe
Alle berichten über den „Alltag in Corona-Zeiten“. Aber nur wenige über: die neue Normalität, tausend fragwürdige Entwicklungen und eine Furcht, die plötzlich immer mitschwingt.
Aufwachen, auf’s Handy schauen. Wieder neue Fälle. Fast 2.000 heute, melden die Nachrichten. Einatmen, ausatmen. Ruhig bleiben. So oder so ähnlich starten viele in den Tag. Egal, wo wir hingehen: Corona dominiert unseren Alltag. Noch immer.
„Neue Normalität“ bedeutet für viele Menschen inzwischen, eine konstante Unruhe oder sogar tief sitzende Angst in sich zu tragen. Diese unterscheidet sich je nach Alter: Während sich Angehörige älterer Risikogruppen vor Ansteckung und schwerer Krankheit ängstigen, fürchten Jüngere eher den Verlust ihrer Existenzgrundlage. Die allgegenwärtige Furcht vor dem Jobverlust war im August auf einem Allzeithoch, so die Universität Erfurt. Und nicht wenige sorgen sich um den Bestand unserer Demokratie. Vergrößert sich nun die Kluft zwischen arm und reich? Und was geschieht mit unserer Gesellschaft im Winter, wenn die Infektionen wahrscheinlich zunehmen? Drängende Fragen, die diskutiert werden, aber unbeantwortet bleiben.
Auch andernorts dominieren Angst und Ungewissheit den Alltag immer mehr. Junge Erwachsene fühlen sich wie ausgeliefert, viele Betriebe nahmen in diesem Jahr keine neuen Auszubildenden an. Der Bertelsmann-Stiftung zufolge geht es vor allem jungen Menschen mit mittlerem oder niedrigem Bildungsniveau so: Jede*r Zweite macht sich Sorgen, die Ausbildung wegen möglicher Betriebsschließung nicht beenden zu können oder nicht übernommen zu werden. Studierende haben meist ihre Plätze noch sicher, doch viele Nebenjobs, etwa in der Gastronomie, sind bereits weggefallen. Die staatliche Soforthilfe stockt den Kontostand um maximal 500 Euro auf, das reicht in manchen Städten gerade für die Miete. Und über all dem hängen drohend die steigenden Corona-Fallzahlen. Erste Stimmen raunen bereits von einer noch schlimmeren, zweiten Welle und strengeren Einschränkungen. Für die Bundestagswahl 2021 nicht unbedingt die besten Aussichten.
Eine Realität, tausend Interpretationen
Doch wir Menschen schätzen ein und dieselbe Lage sehr unterschiedlich ein. Für die meisten bleibt Corona eine präsente Bedrohung. Laut Universität Erfurt halten 57 Prozent der Deutschen das Corona-Virus für (eher) besorgniserregend, 42 Prozent für (eher) angsteinflößend. Trotzdem feiern nicht wenige junge Menschen wieder zusammen, der nächste Rave im Wald wird organisiert beziehungsweise ausfindig gemacht. In solchen Momenten scheint das Virus vergessen. Zurück in den normalen Alltag, lautet die Devise.
Bei anderen konnten die neuen ständigen Bedenken seltsame Auswüchse bilden, sich mit Antisemitismus, Verschwörungsmythen und rechtsextremen Gedankengut paaren. Auf sogenannten Hygienedemos haben Teilnehmende nicht so sehr ihre Angst vor dem Virus thematisiert, sondern eher vor einem übermächtigen Bill Gates, schädlicher Strahlung durch 5G oder einer – selbstverständlich jüdischen – Weltverschwörung. Gemäßigtere Protestierende fürchteten sich stattdessen offen vor der Beschneidung ihrer Grundrechte oder weiteren desaströsen wirtschaftlichen Folgen. Die Demonstrationen wirkten dabei uneinheitlich, die Mitläufer*innen wie zusammengewürfelt. Die verschiedenen Untergruppen schienen einander dennoch zu tolerieren: Hippies und „normale“ Bürger*innen liefen Seite an Seite mit Reichsbürgern.
Individuelle und gesellschaftliche Handlungsoptionen
Wie sich seinen Alltag zurückholen? Wie das Virus ernst nehmen, ohne die eigene psychische Gesundheit zu ruinieren? Am Anfang der Pandemie war ein seltsames Phänomen in den bildungsbürgerlichen Wohnzimmern der Nation zu beobachten: Die Krise wurde als etwas Positives betrachtet, als Gelegenheit zu lesen, zu entschleunigen. Diese Wahrnehmung der Verhältnisse lässt sich als Ausdruck eines Privilegs derer deuten, die sich um die wirtschaftliche Zukunft nicht ernsthaft sorgen müssen. Doch es lohnt sich als Individuum egal welcher Gesellschaftsschicht, seinen Umgang mit der Corona-Pandemie zu überdenken, diese darf nicht den Alltag bestimmen. Mehrmals täglich Fallzahlen zu überprüfen, Twitter ständig upzudaten und sich schlimmstenfalls in irgendwelchen Telegram-Gruppen in Verschwörungstheorien zu verstricken, tut auf Dauer nicht gut.
Stattdessen rät die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), sich bei vertrauenswürdigen Quellen regel-, aber nicht übermäßig zu informieren. Außerdem solle man den eigenen Alltag so positiv wie möglich gestalten: sich mit Freund*innen austauschen, Hobbys nachgehen, Sport treiben, eine Routine zulassen. All diese Dinge helfen, mit dem anhaltenden Stress fertig zu werden.
Aus demokratietheoretischer Sicht lohnt es sich sowieso, systemischen Fragen nachzugehen, die die Krise aufgeworfen hat. Was bedeutet uns „systemrelevant“ denn? Brauchen wir wirklich noch mehr Wachstum? Hat die Krise nicht längst aufgezeigt, dass immer „mehr“ und „schneller“ keinen Sinn ergibt? In Teilen der Existenzphilosophie werden Krisen als positive Brüche gedeutet, in denen sich Gesellschaften auf das Wesentliche besinnen können. Für Søren Kierkegaard hat die Angst eine Bildungs- und Aufklärungsfunktion. Angst sei das Bewusstwerden von Handlungsalternativen, durch das neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Welche Lehren aus der Corona-Krise gezogen werden? Hierauf scheint es noch keine eindeutige Antwort zu geben.
Vielleicht wäre ein Anfang, über die eigene Angst im Alltag zu reden. Sie zu bekämpfen verlangt nämlich einiges: selbst Ruhe zu bewahren, dennoch kritisch zu bleiben und den “Abgedrehten“ zu widersprechen. Denn diese Krise und die damit einhergehende innere Unruhe werden nicht so bald verschwinden. Also morgen früh: Aufwachen, Handy liegen lassen. Einatmen, ausatmen. Die neuesten Corona-Daten können auch nach dem Frühstück überprüft werden.