Ungleiche Kontrahenten: Journalismus vs. Propaganda
Welche Rolle kann Journalismus in Staaten einnehmen, die die systematische Unterdrückung von Andersdenkenden forcieren? Ein Blick nach Russland und Ungarn.
“Most Russians don’t care”, kommentiert Ex-BBC-Journalistin und Medienunternehmerin Ilona Vinogradova die Einstellung vieler Russ:innen zu Putins „Propaganda-Apparat“. So sei es zwar möglich, auch in Russland Zugang zu freien Medien zu erhalten, zum Beispiel durch verschlüsselte Internet-Kommunikation mithilfe von VPN-Clients, jedoch bestehe in der breiten Bevölkerung daran überhaupt kein Interesse, so Vinogradova während des b° future festival für Journalismus und konstruktiven Dialog Mitte September in Bonn. Ein Dilemma sowohl für regimekritische inländische Journalist:innen, die ihr Leben und ihre Karriere auf’s Spiel setzen, als auch für Exilmedien.
Egal ob Russland, Türkei oder Iran: Die Rolle für russische Medienmacher:innen im Ausland ist, um es vorsichtig zu formulieren, verzwickt. Einerseits verlieren sie den Zugang zu ihrem Markt, ihre Webseiten werden geblockt, ein reguläres Erscheinen wird unmöglich gemacht. Andererseits laufen sie durch Spenden aus dem Ausland Gefahr, der Staatspropaganda in die Hände zu spielen. Gleichzeitig widerstrebt dezidiert politischer Aktivismus dem Grundgedanken des unabhängigen Journalismus.
Ilona Vinogradova gibt Journalist:innen im Bereich Exilmedien fünf Tipps:
- Fokus auf die jüngere Generation und Berichterstattung via TikTok als Chance
- Aufbau von lokalen Quellen, um Informationen vor Ort verifizieren zu können: Aus Sicherheitsgründen sollten sich diese Quellen allerdings nicht untereinander kennen.
- Erkennen der Bedeutung von lokalen Netzwerken und Redakteuren im sicheren Exil.
- Verwendung von Messengerdiensten und weiteren Plattformen, um den eigenen Content zu verbreiten: Man bedenke die die Organisation von Protesten via Social Media im “Arabischen Frühling“.
- Fokus auf eine Berichterstattung, die Verantwortliche im Zweifel zur Rechenschaft zieht – etwas, für das im Heimatland allerdings womöglich Gefängnis droht.
Auf unsicherem Terrain
Aber wie sieht es konkret in Europa aus? Diese Frage kann euro|topics, die Presseschau der Bundeszentrale für politische Bildung, beantworten. Auslandskorrespondent:innen stellen dort kurze Auszüge aus europäischen Medien zusammen, um das Meinungsbild zu politischen Debatten darzustellen. Lothar Deeg, der trotz des Ukraine-Kriegs noch aus St. Petersburg berichten kann, und Ungarn-Korrespondentin Kornelia Kiss gehören diesem internationalen Netzwerk an.
Ungarn: Medien auf Regierungslinie
Kornelia Kiss betont, dass die Finanzierung die größte Herausforderung für inländische Orban-kritische Medien darstellt. „Sie werden von finanzieller Förderung ausgeschlossen und bekommen keine Zulassung zu Pressekonferenzen.“ Behörden würden zudem die Auskunft bei Presseanfragen schlichtweg verweigern.
Darüber hinaus stehen Kiss‘ Auffassung zufolge die Orban-kritischen Medien den Narrativen von regierungstreuen Medien gegenüber, die den Niedergang des Westens beschwören und Russland verherrlichen, obwohl Ungarn insbesondere durch die EU-Fördermittel ein großer Profiteur dieser einzigartigen Union ist. Hinzukomme die gestreute Missgunst gegenüber Fremden, Homosexuellen und allen, die vom ungarisch-amerikanischen Börsenmilliardär George Soros Unterstützung erfahren, dem Feindbild der nationalistischen Regierung schlechthin, warnt Kiss. Wer sich diesen Narrativen entgegenstellt, sieht sich mit dem Vorwurf des Landesverrats konfrontiert.
Eine weitere Möglichkeit im europäischen Binnenstaat, unliebsame Medien an den Rand zu drängen: die Medienaufsichtsbehörde. Dem regierungskritischen Radiosender Klubrádió Budapest wurde nach über 20 Jahren Sendezeit 2021 die Lizenz wegen angeblich medienrechtlicher Verstöße entzogen. Seitdem kann das Radio nur noch online empfangen werden.
Nicht nur staatliche Werbeeinnahmen fallen somit für regierungskritische Medien weg, auch auf Unternehmen wird Einfluss ausgeübt, damit sie ihre Werbung in den “richtigen“ Medien schalten. Das Bild, das Kiss zeichnet, ist düster.
Russland: Gefängnis oder Exil
Lothar Deeg, der seit 2004 in Russland lebt, nickt zum Satz „Most Russians don´t care“. „Das eigene Leben, die Datscha am Wochenende, ist wichtiger als die große Politik.“ Die Propaganda ist offensichtlich, dennoch seien insbesondere auf dem Land die Menschen sehr regierungstreu. In St. Petersburg, wo er wohnt, habe er fast niemanden getroffen, der offen eine positive Haltung gegenüber dem Ukrainekrieg geäußert hat.
Seit dem Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die Lage für (ausländische) Journalist:innen drastisch verschärft. Laut Reporter ohne Grenzen sitzen derzeit 22 Journalist:innen in russischen Gefängnissen. Unter anderem ein Wall Street-Reporter, dem angebliche Spionage vorgeworfen wird. Die Nowaja Gaseta, welche als eine der wenigen bedeutenden unabhängigen Medien aus Russland gilt, verlor im Land die Druck- und Webseitenlizenz. Journalist:innen mussten ins Exil im Baltikum.
Die Zukunft für Russlands Medien bleibt ungewiss, so das Fazit zu diesem Themenkomplex. Und was ist von Kommentaren zu kursierenden Gerüchten um Putins Gesundheitszustand zu halten? Er habe nicht mehr lange zu leben, glauben Personen, mit denen Lothar Deeg in Kontakt steht. Sie sind der festen Überzeugung, dass man derzeit nur ein Double bei öffentlichen Veranstaltungen sehe.
Nichts scheint unmöglich in einem Land, in dem es keine freie Presse (mehr) gibt, was die meisten Russ:innen offenbar eh nicht groß beschäftigt. Und falls doch, kann es Gefängnis bedeuten, wenn man sich zu sehr dafür interessiert, wohin das eigene Land driftet.