United We Stream
Tanzen und Solidarität, das gehört zusammen. Die Berliner Clubszene zeigt, warum diese Begriffe nicht erst seit dem 13. März untrennbar miteinander verbunden sind. Aber wie lange noch?
Durch die Maßnahmen gegen das Corona-Virus sind seit dem 13. März alle Clubs in Berlin geschlossen. ALLE. Deshalb hat sich die Szene zusammengeschlossen und sendet jeden Abend Live-Musik, die sich bequem mit heimischen Endgeräten empfangen lässt. So kann das Publikum trotz sozialer Distanzanforderung den Künstler_innen live dabei zuschauen und zuhören, wie sie – meist elektronische – Musik erzeugen. Fast entsteht dabei die Illusion einer gemeinschaftlichen Erfahrung. Der Unterschied: Wir alle sind zu Hause, die Clubs sind – bis auf die Musiker_innen – menschenleer.
Bekannt geworden ist dieses Projekt mittlerweile unter dem Namen: United We Stream. Über fünf Millionen Menschen haben sich die Streams in den Clubs bislang angeschaut. Damit verbunden ist eine Spendensammlung, die bis jetzt weit über 300.000 Euro eingebracht hat. Dieses Geld ist für die Szene überlebensnotwendig, da bis auf weiteres keine Einnahmen zu erwarten sind, aber laufende Kosten gedeckt werden müssen. Ca. 9.000 Mitarbeiter_innen müssen weiterhin ein Gehalt und Vermieter_innen ihre Miete bekommen. Wenn insbesondere Clubs mit geringen Rücklagen und ohne Gewinnabsicht ihre Miete nicht weiter zahlen, bedeutet das in der Regel ihr Ende.
Schon vor Corona waren viele Clubs einem stetigen Existenzdruck ausgesetzt. Das Mensch Meier, zum Beispiel, musste bereits 2019 wegen einer Mieterhöhung per Crowdfunding-Kampagne sein Überleben sichern. Die Rummels Bucht öffnet zwar bald wieder ihren Biergarten, muss aber langfristig für die Bebauungspläne der Stadt weichen. Wenn diese Orte, die nicht nur Berlins Clubszene ausmachen, sondern Teil seiner unverwechselbaren Kultur darstellen, verschwinden, kommen sie wohl nicht so leicht zurück. Denn Raum ist ein Spekulationsgut und nicht allen gleichermaßen zugänglich.
„United We Stream begreift sich als notwendige politische Kampagne, um auf die größte Herausforderung, vor der die Clubkultur Berlins in ihrer Geschichte jemals stand, zu reagieren“, hieß es in einer besorgten Pressemitteilung von Reclaim Club Culture, einem Bündnis von Clubbetreiber_innen, Veranstalter_innen, Kollektiven und Labels, Ende März. Niemand kann sich jetzt zurücklehnen.
Solidarität mit Menschen auf der Flucht
United We Stream macht dabei eines besonders deutlich: Die Clubs sind weit mehr als bloße Räume für Tanzveranstaltungen. Acht Prozent der eingehenden Spenden fließen an den Stiftungsfonds Zivile Seenotrettung. Damit schließt sich United We Stream der Kampagne #LeaveNoOneBehind an, die sich dafür einsetzt, dass kein Mensch vergessen wird, nicht die Opfer in den berüchtigten libyschen Folterlagern und auch nicht die Bewohner in den überfüllten Lagern an der griechisch-türkischen Grenze. „Die Solidarität darf dabei weder an der virtuellen Clubtür noch an irgendwelchen Grenzen im Mündungsfeuer enden“, so der offizielle Tenor.
Das Projekt United We Stream verfügt auch deshalb über eine erhebliche Reichweite, weil zivilgesellschaftliche Organisationen und Aktivist_innen sich dafür einsetzen. Unter United We Talk debattieren politische Aktivist_innen publikumswirksam über Solidarität und Gerechtigkeit. Dabei geht dieses Projekt so weit, gesellschaftliche Verhältnisse als Ganzes infrage zu stellen. „Schluss mit dem ‚Weiter so‘. Ergreifen wir die Chance für den Aufbau eines solidarischen Gesellschaftssystems!“, lautet dazu eine der öffentlich proklamierten Forderungen.
Ist diese Form der Solidarität gänzlich neu? Nein, nur digital! Viele Berliner Clubs zeigen sich schon lange offen solidarisch mit antirassistischen Protesten. Im März 2019 rief Reclaim Club Culture mit dem Bündnis SEEBRÜCKE und anderen Akteuren dazu auf, gegen restriktive Abschiebegesetze auf die Straße zu gehen. Über 6.000 Menschen taten daraufhin tanzend ihren Protest kund. Und auch in ihren eigenen Räumlichkeiten zeigen die Clubs ihre solidarische Haltung: Politische Gruppierungen können dort Soli-Partys feiern, aber auch inhaltliche Veranstaltungen sowie Demo-Vorbereitungen durchführen. Da politische Gruppen in Berlin zunehmend Probleme haben, geeignete Räume für sich zu finden, sind gerade Clubs eine unabdingbare politische Ressource für die sozialen Bewegungen der Stadt.
Solidarität durch Einlasskultur
Tanzen – das ist in erster Linie Bewegung zu Musik. Etwas, das fast alle Menschen in irgendeiner Form gern tun. Wer, was, wo oder wie ist dabei nichts anderes als der Spiegel der Gesellschaft. An einigen Orten werden Grenzüberschreitungen wie Sexismus, Rassismus und Homophobie ignoriert oder Sprache und Kleidung machen die Eingangstür zu einem Hindernis und dem Ausgehplan mancher Gäste ein jähes Ende. Doch inzwischen sind verschiedene Berliner Clubs dafür bekannt, dass ein solches Verhalten keinerlei Toleranz mehr findet. Es gibt lang eingeübte Awareness-Konzepte, die die Clubs zu einem sicheren und freieren Raum für alle machen sollen.
Auch wenn die eigenen auferlegten Regeln nicht immer vollste Beachtung finden: Immer öfter stehen Awareness-Teams jenen Betroffenen zur Seite, die auf einer Feier Opfer von Grenzübertritten und Übergriffen durch andere Gäste geworden sind. Solche Maßnahmen machen diese Clubs für alle erlebbarer und freier, anstatt Rassismus oder Sexismus auch nur eine Chance zu geben. Und nun sind ausgerechnet diese Frei-Räume in Gefahr.
Wenn diese Räume einmal verschwunden sind, dürfen wir uns nicht der Illusion hingeben, dass ähnliche Projekte nach Corona wie Pilze aus dem Boden schießen. Nur die wenigsten werden wiederkommen. Es gäbe zwar auch ohne sie weiterhin Orte zum Feiern, aber wären diese ebenso solidarisch?