Vom Drang, den Namen in Dinge zu ritzen
Oft fühlt es sich an, als ob Menschen, die vor hunderten von Jahren lebten, gar nichts mit Menschen von heute zu tun hätten. Diese zwei Beispiele zeigen aber, dass sie uns viel ähnlicher waren, als wir denken.
Meine Schwester Leah und ich teilen viel: Wir beide lieben Katzen, die “Pride and Prejudice“-Verfilmung von 2005 und Geschichte. Nur, dass sie in Geschichte promoviert und ich mir in meinem Kunstgeschichtsstudium hauptsächlich hübsche Gemälde angucke. Nichtsdestotrotz landen wir häufig in Unterhaltungen über spannende Artefakte und historische fun facts, je nach Laune. Und immer wieder kommen wir eigentlich zu demselben Schluss: Menschen damals waren genauso wie Menschen heute. Sie nennt es historische Kontinuität, ich rede hochtrabend von der Essenz der Menschlichkeit.
Bei unserer letzten schwesterlichen Geschichtsunterhaltung unterbreche ich eine seltene Stille: “Hast du schonmal von Onfim gehört?”
Kinder kritzeln schon ewig in ihre Hausaufgaben
Onfim war ein sechs- oder siebenjähriger Junge, der um 1260 n. Chr. in Nowgorod im heutigen Weliki Nowgorod in Russland lebte und sich durch seine kindliche Kreativität verewigt hat. Wir wissen, dass er Onfim heißt, denn mehr als 700 Jahre später können wir seinen Namen noch auf Stücken von Birkenrinde lesen. 17 solcher sogenannter beresty zeigen, wie Onfim schreiben lernte und davon träumte, ein mächtiger Held zu sein. Auf der Birkenrinde ist das kyrillische Alphabet zu sehen, außerdem Silbenübungen, bekannte Psalme und immer wieder Zeichnungen, stolz unterschrieben von dem jungen Künstler Onfim in seiner ungeübten Handschrift.
Er malte Menschen mit rundem Kopf, Punkt-Punkt-Komma-Strich-Gesicht und gabelartigen Händen mit drei bis acht Fingern, richtig zählen konnte er anscheinend noch nicht. Eine Zeichnung zeigt wahrscheinlich ihn selbst als stolzen Reiter auf einem Pferd, der einen auf dem Boden liegenden Feind besiegt hat. In der Ecke stehen die Anfänge des Alphabets und darunter sein Name. Vielleicht ist ihm beim Schreiben üben langweilig geworden? Auf einem anderen beresty stellt er sich vor, ein fantastisches Wesen zu sein, mit langem Hals und Kringelschwanz: “Ich bin ein Biest” daneben “Grüße von Onfim an David”, vermutlich ein Freund von ihm. Das Bild hat einen Rahmen aus gezeichneten Kreisen, dem kleinen Künstler war Dekoration also auch wichtig.
Leah findet Onfim sehr süß: “Das könnte auch von heute sein, dann würde es bestimmt einen Ehrenplatz am Kühlschrank seiner Eltern haben”.
Auf Papier statt Birkenrinde zeichnen Kinder heute genauso Menschen mit Gabelhänden, Helden, Fantasien. Natürlich immer stolz unterschrieben.
Graffitis unter der Asche des Vesuv
Geschichte fühlt sich oft weit weg an, als ob Menschen vor hunderten Jahren nichts mit einem selbst zu tun hätten. Die Artefakte aus dem alltäglichen Leben historischer Kulturen durchbrechen diese emotionale Entfernung, obwohl sie nie für die Ewigkeit gedacht waren. Meine Schwester fügt hinzu, dass Historiker*innen außerdem wichtige Einblicke in die Lebensrealitäten der Erschaffenden liefern.
So sind viele Graffitis aus Pompeji konserviert worden, als die antike Stadt in der Nähe Neapels 79 n. Chr. unter der Asche eines Vulkanausbruchs begraben wurde. Graffitis mit Datierung können zum Beispiel belegen, wann genau der Ausbruch stattfand.
Neben politischen Nachrichten und Dichtungen machte es meiner Schwester und mir am meisten Spaß, uns die Vulgaritäten anzugucken: Empfehlungen für verschiedene Sexarbeitende und Prahlereien von sexuellen Eskapaden. Wir lesen von dem Wettbewerb zwischen Severus und Successus um die Liebe der versklavten Frau Iris, und von der Aufforderung an Theophilus, dass er aufhören soll, Frauen gegen die Stadtmauern zu befriedigen wie ein Hund. Restitutus bat außerdem Restituta, ihre Tunika auszuziehen und ihren haarigen Intimbereich zu zeigen.
Auch schön: “Wir haben das Bett genässt, Wirt. Wir gestehen, dass wir Unrecht getan haben. Wenn du wissen willst warum, es gab keinen Nachttopf”.
Schmierereien als Weiterführung einer uralten Tradition
Bei den alten Römern denkt man meistens an mächtige Feldherren, Kaiser und Philosophen, doch genauso waren sie Scherzbolde und Schürzenjäger.
Aber es gab auch genügend Romantiker: “Wer nicht an Venus (die Göttin der Schönheit und der Liebe) glaubt, muss nur meine Freundin betrachten”.
Es ist ironisch, dass das älteste Graffito (ja, das ist der korrekte Singular) das vielleicht zeitloseste ist: “Gaius Pumidius Diphilus war hier” mit Datierung auf umgerechnet den 3. Oktober 78 v. Chr.
Anscheinend gibt es einen universellen menschlichen Drang, seinen Namen zu hinterlassen. Schmierereien in Unterführungen oder Herzen mit Anfangsbuchstaben verliebter Paare in Baumrinden erscheinen plötzlich in einem ganz anderen Licht, nämlich als Weiterführung einer uralten Tradition.
“Solche Artefakte stellen Kontinuitäten her”, sagt Leah zu den Graffitis in Pompeji. “Man sieht sich plötzlich selbst in diesem großen Zusammenhang der Geschichte, weil man sich denkt: “Das hätte ich auch machen können”.
So verbleiben meine Schwester und ich, und trinken wie Römer noch ein bisschen Wein. Leise hab‘ ich mir vorgenommen, morgen meinen Namen irgendwohin zu sprühen. Denn ob mit Spraypaint, Kreide oder auf Birkenrinde: Menschen werden eigentlich immer gleich sein.