Wenn die Natur ohnmächtig macht
Dokumentarfilme sollen zeigen, was ist. Oft legen sie dabei den Finger in die Wunde. In Potsdam zeigen studentische Kurzfilme, woher diese Verwundungen kommen.
Was wäre ein Film ohne Filmemacher? Ohne die dutzenden, hunderten, manchmal tusenden Statisten, Schauspieler, Maskenbildner, Bühnenbauer, Kameraleute und natürlich die Regie?
Ein Stoff, der noch geformt werden muss. Eine Naturgewalt, die es noch zu bändigen gilt, zumindest für den Augenblick der Aufnahme. Und je kleiner das Team der Film-Dompteure, desto schwerer wiegt das Projekt auf den Schultern der Kulturschaffenden.
So auch bei den Dokumentarbeiträgen des Internationalen Filmfestivals “Sehsüchte“ in Potsdam. Die dort präsentierten Kurzfilme zeugen von der nahezu grenzenlosen Hingabe, die notwendig ist, um ein solches Gesamtkunstwerk mit oft nur sehr begrenzten Mitteln fertigzustellen. In vielerlei Hinsicht ist es eine Herkulesaufgabe, der Respekt gebührt.
Umso interessanter ist deshalb, dass viele der diesjährigen 21 Einreichungen darauf ausgelegt waren, eben jene uns umgebende Außenwelten in den Vordergrund zu stellen statt der Protagonisten, die versuchen, ihrer Herr zu werden. Ganz im Gegenteil zu triumphalen Siegeszügen oder verheerenden persönlichen Niederlagen handeln die Dokumentationen von dem, was uns abseits jeder menschlichen Verwerfung tagtäglich umgibt: von der Umwelt und unserer Ohnmacht ihr gegenüber. Denn, wie sich zeigt, bietet sie (abseits real existierender Zustände) mehr als genug Dramatik für die große Leinwand.
Poesie in der Ödnis
Ein Film, der diese Naturgewalten eindrücklich darstellt, ist die usbekische Produktion “Aralkum“, die von der Verlandung des Aralsees handelt. Einst war er der viertgrößte See der Erde, aber seit den 1960er Jahren trocknet er immer weiter aus. Die Sowjetunion leitete zu der Zeit zwei Flüsse um. Ziel war es, das dadurch bewässerte Land zum Baumwollanbau zu nutzen. Anfangs ging der Plan sogar auf – bis die Natur zurückschlug.
Was nach dem menschlichen Eingriff in das vorsichtig austarierte Ökosystem übriggeblieben ist, zeigt das aus Daniel Asadi Faezi und Mila Zhluktenko bestehende Regie-Duo hinter “Aralkum“ eindrücklich. Der Name bezieht sich auf die Wüste, die das Schwinden des Aralsees entlang der Grenze zwischen Kasachstan und Usbekistan hinterließ. Tosende Winde peitschen entlang der Senken, die früher die Untiefen eines mächtigen Binnengewässers bildeten. Immer wieder wehen sie den staubtrockenen gelben Boden auf, der sich regelmäßig zu Sandstürmen emporballt.
Ein Überleben ist hier für Flora und Fauna kaum noch möglich. Der Film berichtet von einer letzten Pflanzengattung, die es in der Wüste aushält. Die Menschen, die noch vereinzelt dort ausharren, sind vor allem alte Fischer und ihre Angehörigen, die von ihren einstigen Hochzeiten zehren. Heute starren sie auf die verrosteten Schiffswracks, in denen sie einst die letzten Störe aus dem Wasser zogen.
Das vielleicht Faszinierendste an “Aralkum“ ist jedoch, was im Film nicht gezeigt wird: der See selbst. Er lässt sich nur auf kurzen Archivaufnahmen bestaunen, die zwischen den heutigen Szenen in die Montage einfließen. Ansonsten tänzeln die Einstellungen zwischen allem, das versucht, dem neu gewonnenen Land etwas abzuringen.
Wir nach der Sintflut
Nicht weniger verheerend ist das Thema der deutschen Kurz-Dokumentation “Stille Wasser“. Der Hauptunterschied ist dabei schnell erklärt: Während “Aralkum“ vom Fehlen des Wassers erzählt, bildet der Beitrag von Kevin Koch ab, was passiert, wenn die Wassermassen unbeherrschbar werden.
Im Juli 2021 kamen bei einer verheerenden Flutkatastrophe im rheinland-pfälzischen Ahrtal mehr als 130 Menschen ums Leben. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass viele dieser Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn frühzeitig gehandelt und präventiv geplant worden wäre. Nicht das Eingreifen des Menschen, sondern seine Inaktivität löste in diesem Fall die Tragödie aus.
“Stille Wasser“ beleuchtet, wie die Bewohner der Region im Jahr nach dem Desaster versuchen, sich ihr Leben wiederaufzubauen. Und das nimmt mitunter fast schon feudale Züge an.
Die ersten Aufnahmen zeigen Markus Kelter, den Besitzer eines Gästehauses in Bad Neuenahr-Ahrweiler, in den Überresten seiner Wirtschaft. Mit einer Stirnlampe ausgerüstet steigt er in den Keller hinab, um zwei große Eimer mit Wasser zu füllen. Nur so kommt er derzeit an das nutzbare Nass. Über eine Holztreppe steigt er wieder aus dem stockfinsteren Gewölbe empor.
Oben angekommen, erzählt er von Fluten, den Niagarafällen gleich, und Schreien, die er in der Nacht zum 15. Juli von draußen vernahm, als die Flut unentwegt anschwoll – Todesschreien, wie sich später herausstellen sollte. Es sei die schlimmste Nacht in seinem Leben gewesen.
Er erinnert sich an ein einzelnes Licht, das leuchtete, als er in das Dunkel nach draußen starrte. „Wie die Brücke der Titanic mit der Kapelle zum Schluss“ sei das gewesen. Hoffnung ist bei Kelters Schilderungen kaum zu spüren.
Doch es gibt sie: Horst Pfennig, ein pensionierter Ahrtaler, beklagt das Ableben seiner geliebten Koi-Karpfen, die ebenfalls der Flut zum Opfer fielen. Trotz der Trauer versucht er niemanden mit seinen Sorgen zu belasten und lenkt sich stattdessen mit dem Musizieren ab. Mehrfach beobachten wir ihn beim Proben seiner Serenaden.
Als die Gemeinde in der Weihnachtszeit zusammenkommt, spielt er den Dagebliebenen ein Ständchen. Auch Kelter gefällt das. Kurz zuvor sieht man den ehemaligen Gastwirt beim Abholen eines kostenlosen Weihnachtsbaumes für jeden Einwohner. Als er die eingepackte Nordmanntanne auf der Schulter nach Hause trägt, strahlt er förmlich.
Es sind kleine Gesten wie diese, die den gezeigten Dokumentarfilmen ihre Menschlichkeit verleihen. Die Oberhand hat hier zwar stets die Natur, die die Menschen in ihr zu den eingangs erwähnten Statisten degradiert. Doch jeder dieser Statisten ist eigentlich sein eigener Protagonist. Denn statt sich ihrer Rolle zu fügen, schreiben sie sie neu. Und so wird aus dem bloßen Überleben ein Weiterleben – trotz der Ohnmacht.
Aralkum
Regie/ Produktion: Daniel Asadi Faezi, Mila Zhluktenko
Deutschland/ Usbekistan, 2021-2022, 13 Minuten
Stille Wasser
Regie: Kevin Koch
Deutschland, 2022, 29 Minuten