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„Wir haben ein Abwanderungsproblem“

Von Christa Roth / 14. Oktober 2020
picture alliance / Westend61 | Nailia Schwarz

Moritz Säzler arbeitet als Pfleger in einem Stuttgarter Kinderhospiz. Wie der Pflegenotstand in Deutschland in den Griff zu bekommen wäre, erklärt er im sagwas-Interview. Hoffnung, dass sich bald etwas ändert, macht er sich jedoch keine.

Von der Idee, Informatik zu studieren, hat sich Moritz Säzler zum Glück schnell wieder verabschiedet. „Den ganzen Tag vorm Rechner zu sitzen, das ist nichts für mich“, war seine Devise, auch wenn er der Bezahlung, die der Beruf eines Softwareentwicklers mit sich bringt, durchaus noch manchmal nachtrauert.

sagwas: Als Mann den Weg in die Pflege zu finden, ist auch in diesen ach-so-aufgeklärten Zeiten eher ungewöhnlich. Wie kam das bei dir?

Moritz Säzler: Mein FSJ habe ich auf einer Wachkoma-Station für Erwachsene absolviert. Und familiär hatte ich im Bereich Behinderung Erfahrung – und da ist Pflege in der Regel mit drin: Meine Schwester ist körper- und geistig behindert und mein Vater arbeitet im Behindertenkindergarten. Berührungspunkte waren also schon vorher da. Berührungsängste dagegen ganz und gar nicht. Außerdem war ich zufrieden mit dem, was ich in der Pflege getan habe. In diesem eigentlich schrecklichen Umfeld, in dem Menschen – das kann man teilweise nicht anders sagen – vor sich hinvegetieren, konnte ich ein bisschen Freude vermitteln. An diesem Punkt war für mich klar, dass ich mir das beruflich vorstellen konnte.

2005 waren 2,1 Mio. Menschen in Deutschland pflegebedürftig. 2020 sind es 2,9 Mio. und für 2050 rechnet man mit 4,5 Mio. Personen, die ambulant, stationär oder zuhause versorgt werden müssen. War dir gleich klar, welche Form der Pflegearbeit für dich in Frage kommen würde?

Während der Ausbildung wurde mir schnell klar, dass ich in keiner Klinik arbeiten werde – das fand ich schrecklich: kaum Zeit für die Patienten, enge Personalschlüssel und die Sterbebegleitung läuft praktisch nebenher. In der Ausbildung sind mir tatsächlich ein paar Leute verstorben, um die ich mich nicht kümmern konnte. Und diese Erfahrung hat mich damals in Richtung Palliativmedizin gelenkt. Zunächst bin ich aber in die Behindertenarbeit gegangen, wo eine Einrichtungsgründung anstand, und habe bald darauf ein Sabbatjahr eingelegt, um das Haus meiner Eltern und mein Haus zu sanieren. Ende 2017, als das stationäre Kinder- und Jugendhospiz hier in Stuttgart eingerichtet wurde, kam dann eine gute Freundin und empfahl mir, mich auch dort zu bewerben, wo ich hängen geblieben bin.

Was macht die Arbeit für dich dort so besonders?

So schön und qualitativ hochwertig hatte ich davor nie arbeiten können. Hier gibt es zudem Unterstützung durch ein tolles therapeutisches und pflegerisches Team, außerdem eine Chefin, die uns allen den Rücken frei hält.

Solche positiven Kommentare hört man von Pflegekräften eher selten.

In der Altenpflege herrscht nach wie vor der größte Notstand, denke ich, und ich kriege so einiges von befreundeten Arbeitnehmern aus dem Bereich mit. So, wie die Arbeitsbedingungen dort sind, würde ich eher bei Tönnies Schweine zerteilen oder den Müll abholen. Menschen so schlecht zu versorgen, wie es in der Altenpflege der Fall ist, damit könnte ich moralisch nicht leben. Im Nachtdienst hat man zum Teil auf zwei Stockwerke verteilt bis zu 44 Leute, um die man sich kümmern muss. Alleine! Und morgens in maximal zwei Stunden, um ungefähr zwölf Leute aus dem Bett zu holen, beim Waschen zu unterstützen und an den Frühstückstisch zu karren. So kann man niemandem gerecht werden. Und so wollen nur noch die wenigsten arbeiten. Deshalb versuchen unsere Politiker verzweifelt, Fachkräfte aus dem entfernten Ausland heranzuschaffen. Lohn und Arbeitsbedingungen in der Pflege sind aber mittlerweile so heruntergewirtschaftet, dass wir in Osteuropa kaum noch Mitarbeiter finden.

Kann sich keine bessere Arbeit wünschen – höchstens bessere Arbeitsbedingungen: Moritz Säzler. (Foto: M. Säzler)

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat 2019 sogar in Mexiko um Pflegekräfte geworben. Wie bewertest du diesen Lösungsansatz für den Fachkräftemangel?

Selbst Kooperationen mit chinesischen Pflegeschulen gibt es, wo die Schüler einen Deutschkurs machen, um für unseren Markt ausgebildet zu werden. So absurd ist es schon! Aber das Provisorium, Fachkräfte von außerhalb anzuwerben, ist keine Dauerlösung. Was insbesondere in der Politik totgeschwiegen wird, ist, dass mit Geld im Bereich Pflege viele Probleme zu lösen wären. Es braucht ganz einfach mehr Arbeitsstellen und bessere Bezahlung. Vor 20 Jahren hat sich das für eine polnische oder ukrainische Krankenschwester mehr als gelohnt, nach Deutschland zu dürfen, um hier für täglich acht Stunden gutes Geld zu verdienen. In der Pflege arbeite ich heute ein Vierteljahr, um an den Monatslohn eines Softwareingenieurs ranzukommen. Das Nachwuchsproblem, das wir haben, ist ein Symptom, nicht die Ursache.

Was ist in deinen Augen ein noch größeres Hindernis?

Wir haben eher ein Abwanderungs- als ein Nachwuchsproblem: In Deutschland hält man diesen Job auf Dauer vollzeit nicht durch, darum geht es. Fünf Tage arbeiten, zwei Tage frei – das reicht bei dieser psychischen Belastung, wie wir sie haben, nicht aus, um sich zu erholen. Um die negativen Seiten abzulegen, bevor man eine neue Woche beginnt, müssten viele wie ich auf 80 Prozent reduzieren, was sie sich aber schlicht nicht leisten können. Also wechseln sie stattdessen lieber den Beruf. Würden wir die ausgebildeten Kräfte 30 Jahre in ihrem Beruf halten können, wie das in anderen Branchen der Fall ist, hätten wir den Pflegemangel hierzulande längst behoben.

Aber auch ein höherer Lohn und eine reduzierte Arbeitszeit ändern nichts an den physischen und psychischen Strapazen, die Pflegeberufen innewohnen. Insbesondere im Bereich Hospizarbeit.

Ja, und auch gestandene Kinderkrankenschwestern mit 30 Jahren Erfahrung sind auf das Konzept Kinderhospiz oft nicht gut zu sprechen. Viele können sich palliative Arbeit für sich nicht vorstellen, weil man nicht mehr kämpft. In Kliniken, auf Intensivstationen, wo ähnlich viele Kinder sterben wie bei uns, versucht man, den Tod zu verhindern. Wir hingegen müssen den Tod der Kinder als Teil ihrer Reise akzeptieren und damit zurechtkommen, dass wir begleiten und lindern, aber nicht retten können. Anders gesagt, heißt das aber auch, es gibt nicht genug Pflegekräfte, die palliative Begleitung bieten und damit den vorhandenen Bedarf decken können. In Deutschland hinkt das Thema Kinderhospiz im Vergleich zu England oder den Niederlanden hinterher. Allein in London und Umgebung hat es mehr Kinderhospize als in ganz Deutschland.

Auch euer Team besteht zur Hälfte aus Erwachsenenpflegern…

Das ist dem geschuldet, dass man eher wenig ausreichend ausgebildete Kinderkrankenpfleger findet, die sich vorstellen können, in einem Kinderhospiz zu arbeiten. Außerdem sind wir ein komplett deutsches Team, was recht ungewöhnlich ist, aber nur Zufall, und mit ungefähr fünf von 30 auch recht viele Männer.

Euer Kinderhospiz hat einen christlichen Träger. Inwieweit spielt Religion eine Rolle für euch und eure Patienten?

Wenn jemand christlich, muslimisch, jüdisch oder sonstigen Glaubens ist, stelle ich sicher, dass ein Geistlicher aus einer Gemeinde erreichbar ist, der mit dem Kind oder den Eltern betet, wenn das gewollt ist.

In eurer Einrichtung können acht sterbenskranke Kinder und Jugendliche aufgenommen werden. Wie muss man sich die Abläufe bei euch vorstellen?

Tatsächlich achten wir darauf, mit maximal sieben Personen nicht voll belegt zu sein. Ein Zimmer sollte für den akuten Sterbenotfall frei bleiben. Zwei der Zimmer sind Familien vorbehalten, damit Eltern mit ihren Kindern Seite an Seite sein können, sowie drei Appartements nur für Eltern, in die sie sich auch mal zurückziehen können. Zu uns kommen zwar sterbenskranke Kinder, aber nicht unbedingt zum Sterben, wie bei Erwachsenenhospizen. Man hat mit einem solchen Kind im Jahr vier Wochen Anspruch auf Hospizunterbringung. Für viele Familien ist der Aufenthalt bei uns wie ein Urlaub, und zwar den einzigen, den sie machen können. Dementsprechend organisieren wir Ausflüge, wir grillen, haben eine Hüpfburg im Garten, Sandkasten und Schaukel. Bei uns findet ganz normales Leben statt. Soweit das gerade für bettlägerige Kinder, die medizinisch versorgt werden müssen, in einer nicht ganz barrierefreien, denkmalgeschützten Jugendstilvilla möglich ist.

Pflege ist immer auch eine Kostenfrage. Euer Hospiz gibt es erst seit Ende 2017. Wie sieht es da finanziell aus?

Alle Pflegeeinrichtungen würden so arbeiten wie wir, wenn sie – finanziell – könnten. Was das im Detail bedeutet, kann ich an dieser Stelle nicht sagen. Nur soviel vielleicht: Mit dem Dachverband der Krankenkassen GKV verhandeln wir pro Kind einen Tagessatz, der aber längst nicht reicht, um alle unsere Kosten zu decken. Das schaffen wir nur dank Spenden. Und dieses Geld brauchen wir, damit unsere Arbeit nicht nur gut, sondern überhaupt geleistet werden kann.

A propos gute Leistung: Hast du den Eindruck, dass wichtige Berufe wie deiner seit diesem Jahr innerhalb der Gesellschaft besser angesehen sind?

Es lohnt sich nicht, wenn die Anerkennung, die wir von der Gesellschaft während der Corona-Krise dazugewonnen haben, bei Applaus vom Balkon endet. Es geht darum, bei Wahlen die Partei zu wählen, die die Sozialberufe ernst nimmt anstatt sie zu vernachlässigen, wie das einige in den letzten 40 Jahren getan haben… Nahezu sprachlos gemacht haben mich aber die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Wir haben eine noch immer akute Pandemie zu bewältigen, einige Pflegekräfte haben monatelang ohne richtige Schutzausrüstung ihr Leben riskiert und wurden als Helden betitelt, und selbst unser Arbeitsminister hat gefordert, uns besser zu bezahlen. Und trotzdem: In dieser Situation fordern die Arbeitnehmerverbände gerade einmal vier Prozent, von Arbeitgeberseite kam gar kein Gegenangebot, weil es heißt, es gebe keinerlei finanziellen Spielraum wegen Corona. Aber nebenher werden Milliarden für die Lufthansa und andere rausgeballert, um die Wirtschaft zu retten. Ich würde mir viel mehr Solidarität im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst wünschen, viel mehr. Dass etwa Busfahrer, Müllmänner und weitere für uns mitstreiken, weil wir es nicht können, einfach weil sonst Menschen sterben.

Danke für das Gespräch!

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