Working Class Cinema auf dem roten Teppich
Arbeiterklasse im Film? Schön wär’s. In Zeiten der Pandemie medial noch als systemrelevant beklatscht, bleibt die arbeitende Klasse im Kino häufig unsichtbar. Drei Filme der Berlinale wollen Abhilfe schaffen und packen Arbeitskampf, Arbeitsrecht und einen Hauch von Idealismus ins Scheinwerferlicht des größten Publikum-Filmfestivals der Welt.
Fragen nach Repräsentation rücken aktuell meist den Begriff der Diversität in den Mittelpunkt. Auch wenn Hollywood selbst „Diversity“ mittlerweile als Marke vertreibt und kommerziell ausschlachtet, ist es richtig und wichtig, die Vielfalt einer Gesellschaft auch darüber hinaus, wann immer möglich, darzustellen.
Dazu gehört die Repräsentation einer Arbeiterklasse, die im Kino häufig nur eine Randerscheinung bleibt. Aber wer gehört zu dieser Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert? Offensichtlich entspricht sie nicht mehr dem homogenen Marx’schen Industrie-Proletariat. Heute setzt sie sich vorwiegend aus Beschäftigten eines wachsenden Niedriglohnsektors zusammen, der in Europa seit 2018 mehr als 15 Prozent der abhängig Beschäftigten ausmacht. Die Betroffenen reichen vom Fabrikarbeiter bei Tesla über den Lieferando-Fahrer bis zur Fleischarbeiterin bei Tönnies. Das moderne Proletariat zersplittert in eine Vielzahl von Berufsgruppen.
Wie also eine so vielfältige Masse darstellen? Als Filmfestival mit politischem Anspruch rollt die Berlinale 2022 den roten Teppich auch für jene Independent-Filme aus, die den Scheinwerfer auf diese oft unbeachtete Arbeiterklasse richten.
Baustelle Klassenkampf
„What are we building here?”, fragt einer der Bauarbeiter ratlos. Der Bauleiter erwidert nüchtern: „What do I care? Work when you are told to.” Im serbischen Film Heroji radničke klase (engl. Working Class Heroes) von Miloš Pušić ist die Arbeiterklasse titelgebend – eine Hommage an John Lennons Songmanifest „Working Class Hero“ aus dem Jahr 1970. Ein fiktionaler Film, der sehr reale ausbeuterische Arbeitsverhältnisse thematisiert. Auf der einen Seite steht eine Gruppe Bauarbeiter, die sich im Verlauf des Films auf verschiedene Weise gegen widrige Arbeitsbedingungen stellen und lieber Unfälle simulieren oder einfach Fußball spielen. Auf der anderen Seite: der Geschäftsführer einer Immobilienfirma, der den Bauarbeitern ihren Lohn vorenthält und schließlich über Leichen geht, um die Baustelle funktionstüchtig zu halten. Zwischen die Fronten gerät Lidija, die PR-Beauftragte der Immobilienfirma. Als Mutter eines Kindes und mit arbeitslosem Partner an ihrer Seite ist sie auf ihre Arbeit angewiesen. Deshalb trägt sie die Ausbeutung der Bauarbeiter über weite Strecken mit und repräsentiert die Immobilienfirma nach außen. Erst nach und nach stellt sie sich auf die Seite der Bauarbeiter. Der Film verdeutlicht den schwelenden Konflikt: Wie aus dem Machtgefälle zwischen Arbeitnehmer_in und Arbeitgeber_in ausbrechen, wenn die eigene Existenz auf dem Spiel steht? Das zunächst naheliegende Resultat: Jede_r steht für sich, getrieben von der Angst, die eigene Lebensgrundlage zu verlieren. Die Baustelle wird zum Mikrokosmos eines neuzeitigen Klassenkampfes, bei dem Eigeninteresse und kollektive Solidarität im permanenten Spannungsverhältnis stehen.
Der Film ist das Musterbeispiel für ein Working Class Cinema, das auf ungerechte Arbeitsverhältnisse innerhalb des Kapitalismus und die damit verbundene Ausweglosigkeit von Lohnarbeiter_innen aufmerksam macht. So scheint die Eskalationsspirale der Erzählung vordergründig übertrieben. Die Arbeitsbedingungen sind jedoch weit verbreitete Realität. Hierzulande sind es vor allem osteuropäische Bauarbeiter_innen, die von Lohndumping und nicht erbrachten Sozialleistungen betroffen sind. Der Film ist als Appell zu verstehen: Einerseits, wie Lidija, nicht die Augen zu verschließen, sondern sich aktiv zu solidarisieren mit denen, die von Ausbeutung betroffen sind, und andererseits ein Appell an die Arbeitenden, nicht zu vereinzeln, sondern im Kollektiv für Arbeiterrechte zu protestieren.
Zahnräder des Arbeitsrechts
Von der individuellen wechselt der zweite Film die Perspektive hin zu institutionalisierter Solidarität. Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien von Constantin Wulff ist das dokumentarische Portrait einer einzigartigen Institution, die sich für die Arbeitsrechte vieler Lohnabhängigen in Österreich stark macht. Als bundesweite Interessensvertretung berät die Arbeiterkammer (AK) alle Arbeitnehmer_innen Österreichs in arbeitsrechtlichen Fragen, bietet juristischen Beistand und leistet politische Bildungs- sowie Lobbyarbeit. Die Dokumentation beleuchtet die Arbeitsprozesse der AK, ihrer Organisation und Bürokratie und bietet darüber hinaus hilfesuchenden Arbeiter_innen eine Plattform: Einem DHL-Zusteller, der seine Überstunden nicht ausgezahlt bekommt. Einer Verkäuferin, der wegen körperlicher Beschwerden unrechtmäßig gekündigt wurde. Und vielen weiteren Schicksalen, denen die AK als institutionelle Säule zur Seite steht.
Als teilnehmende Beobachterin begleitet die Kamera Beratungsgespräche, Teamsitzungen und Bildungsveranstaltungen, wahrt dabei jedoch stets eine neutrale Distanz. Über vier Jahre verfolgt Constantin Wulff so die Zahnräder eines bürokratischen Arbeitskampfes. „Für eine funktionierende Demokratie, muss sich eine Gesellschaft Institutionen leisten“, betont er nach der Weltpremiere im Delphi Filmpalast. Um sich die Relevanz dieser Aussage zu verdeutlichen, genügt ein Blick auf den Anteil an Tarifbeschäftigten in Österreich. Nach Angaben des Regisseurs sind ca. 95 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse in Österreich tarifvertraglich geregelt (zum Vergleich: in Deutschland sind es 44 Prozent, Stand 2019). Der Einsatz der Arbeiterkammer seit mehr als 100 Jahren scheint sich bezahlt gemacht zu haben.
Zeit für Idealismus
Vom bürokratischen Maschinenraum des Arbeiterkampfes hin zu idealistischen Visionen. Die Zeit messen zu können, war seit Beginn der Industrialisierung elementare Voraussetzung für die Steigerung von Effizienz. Die Uhr diktierte dem Proletariat, wann es zu arbeiten hatte. Im schweizerischen Spielfilm Unrueh von Cyril Schäublin ist der Zeitmesser allgegenwärtig. Die in der Sektion „Encounters“ mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnete Produktion taucht ein in die industrielle Uhrenherstellung im Schweizer Kanton Jura, um 1877.
Protagonistin des historischen Spielfilms ist die Fabrikarbeiterin Josephine Gräbli, die für die sogenannte Unruh, das Schwingsystem im Inneren der Uhr, verantwortlich ist. Neben der streng getakteten Arbeit trifft sie Pyotr Kropotkin, der Teil der internationalen anarchistischen Bewegung ist, die sich im späten 19. Jahrhundert im Uhrmachertal zu formen beginnt. Zwischen den beiden entwickelt sich eine entschleunigende Gesprächsreise entlang der Fragen nach einem alternativen System, abseits von Nationalismus und den Gesetzen des Marktes. In weitläufigen Bildern zeichnet der Film das historische Panorama einer Zeit, in der Vorstellungen einer gerechteren Welt noch nicht im Narrativ eines scheinbar alternativlosen Kapitalismus versunken sind.
Eine soziale Frage
Ob moderner Klassenkampf, dokumentarisches Institutions-Portrait oder historisches Panorama. Die Berlinale bringt die Arbeiterklasse in unterschiedlicher Manier ins Kino. Doch wer möchte sich in seiner Freizeit mit der Arbeit anderer beschäftigen? Ist es nicht bequemer, das Prekariat lieber wohlportioniert mit einer Prise amerikanischem Drama oder komödiantischem Esprit einer vertrauten Sitcom auf Netflix serviert zu bekommen?
Mit Blick auf die global wachsende soziale Ungleichheit, wäre es wünschenswert, einem Klassenbewusstsein wieder mehr Bühne zu verschaffen. „Ob das wohl eine kulturelle Signalwirkung für mehr soziale Gerechtigkeit senden würde?“, frage ich mich, nachdem ich aus dem gemütlichen Kinosessel über den roten Teppich nach Hause ins Arbeiterviertel Berlin-Wedding laufe.