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Zeiten des Aufruhrs

Von Bettina Ehbauer / 4. November 2014
picture alliance / AP Photo | Jane Barlow

In den kommenden Wochen werden wir im Rahmen unserer Separatismus-Reihe an dieser Stelle jeden Dienstag die Unabhängigkeitsbestrebungen einer Region vorstellen, darunter die Regionen Baskenland, Südtirol, Venetien, Sardinien, Katalonien, Korsika, Myanmar und Palästina. Wir beginnen mit einem Hintergrundartikel zum Separatismus. Nicht nur zahlreiche Schotten und Katalanen streben nach der Unabhängigkeit: In vielen Gebieten Europas und der […]

In den kommenden Wochen werden wir im Rahmen unserer Separatismus-Reihe an dieser Stelle jeden Dienstag die Unabhängigkeitsbestrebungen einer Region vorstellen, darunter die Regionen Baskenland, Südtirol, Venetien, Sardinien, Katalonien, Korsika, Myanmar und Palästina. Wir beginnen mit einem Hintergrundartikel zum Separatismus.

Nicht nur zahlreiche Schotten und Katalanen streben nach der Unabhängigkeit: In vielen Gebieten Europas und der Welt vom Baskenland bis Xinjiang wünschen sich Menschen einen eigenen Staat für ihre Region – aus unterschiedlichen Gründen.

Separatistische Strömungen verspüren derzeit kräftigen Rückenwind. Aber die Bewegungen sind nicht neu: Schon seit Jahrzehnten streben in vielen Staaten nationalistisch beziehungsweise regionalistisch gesinnte Parteien nach der Abspaltung ihrer Region vom bestehenden Staatsverband.

„Das europaweite Netzwerk Europäische Freie Allianz hat bereits im Jahr 2000 in seiner Brüsseler Erklärung den sogenannten demokratischen Nationalismus zur Doktrin erhoben“, erklärt Politikwissenschaftlerin Sabine Riedel von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Demnach sollen alle Sprachminderheiten in Europa das Recht auf einen eigenen Staat und entsprechende Vertretungsrechte in allen EU-Institutionen erhalten.“

Mittlerweile ist die EFA vom Europäischen Parlament als eigenständige Partei anerkannt und stellt derzeit zwölf Abgeordnete. „Nicht nur die EFA, auch alle ihrer 35 Mitgliedsorganisationen können sich seither mehr Aufmerksamkeit verschaffen“, sagt Riedel. „Das ist eine entscheidende Voraussetzung für die Initiierung von Massenbewegungen.“

Opfer der Geschichte

Die Gemeinsamkeit der EFA-Organisationen laut Riedel: Sie alle sehen sich als Opfer der Geschichte, die ihnen ungerechterweise die Gründung eines eigenen Staates vorenthalten habe. Das ist auch das Mantra der derzeit besonders erfolgreichen Mitgliedspartei Scottish National Party (SNP). Beim Unabhängigkeitsreferendum am 18. September 2014 stimmten dennoch die meisten Schotten gegen eine Loslösung vom Rest Großbritanniens.

Jahrhundertelang bekämpften sich die schottische und die englische Krone. Im Jahre 1707 schuf der Act of Union die gesetzliche Grundlage für die Fusion der Königreiche England und Schottland, Basis für die heutige Einheit Großbritanniens.

Der Zusammenschluss hatte damals in erster Linie wirtschaftliche Gründe: Schottland war faktisch bankrott. Im Gegenzug für die Abtretung der staatlichen Souveränität konnte das Land seine Schulden auf das Vereinigte Königreich abwälzen. Zudem verzichtete England auf angekündigte wirtschaftliche Sanktionen.

Vor allem ökonomische Anreize zur Trennung

Auch wenn die SNP versuchte, die Schotten aus historischen Gründen zum „Yes“ im Unabhängigkeitsreferendum zu bewegen, waren für viele Wähler andere Gründe ausschlaggebend.

Jan Eichhorn, der als Politikwissenschaftler an der University of Edinburgh. (Foto: privtat)
Jan Eichhorn, Politikwissenschaftler an der University of Edinburgh. (Foto: privtat)

Auch im Jahr 2014 hat die Wirtschaft die ausschlaggebende Rolle gespielt. „Nationalistische Tendenzen und historische Gründe waren für den Großteil der Menschen, die im Referendum für die Unabhängigkeit gestimmt haben, nicht entscheidend“, sagt Jan Eichhorn, der als Politikwissenschaftler an der University of Edinburgh zu politischen Einstellungen forscht.

„Die Menschen haben sich die Frage gestellt: Geht es Schottland mit der Unabhängigkeit besser?“ Dabei hätten sie vor allem wirtschaftliche Aspekte, aber auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit berücksichtigt.

„Wir haben in Umfragen nur eine schwache Korrelation zwischen dem Abstimmungsverhalten und der nationalen Identität der Wähler gefunden“, so Eichhorn. „Betrachtet man hingegen die Frage, ob ein Wähler an ökonomische Vorteile für Schottland aus der Unabhängigkeit glaubt, ergibt sich eine fast perfekte Korrelation mit dem Abstimmungsverhalten.“

Viele Schotten wollen die Einnahmen aus den Öl- und Gasvorkommen des Landes (85 Prozent der britischen Öl- und Gasressourcen befinden sich vor der schottischen Küste) nicht länger mit dem Rest der Briten teilen. Viele Wirtschaftsexperten prophezeien einem unabhängigen Schottland jedoch keine rosige Zukunft.

„Eine Scheidung würde die betreffenden Staaten und ihre Regionen in den finanziellen Ruin treiben“, meint Sabine Riedel auch im Hinblick auf andere Regionen, die sich abspalten wollen. Sinkende Investitionen, Börsenkurse auf Talfahrt und die Abwanderung wichtiger Unternehmen könnten junge unabhängige Staaten arg beuteln.

Doch nicht alle Experten sind von der Nachteiligkeit der Loslösung Schottlands überzeugt. „Viele Ökonomen sind der Meinung, dass ein unabhängiges Schottland mit ähnlichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hätte wie andere westeuropäische Staaten, dass die wirtschaftliche Situation aber kein Desaster wäre“, sagt Jan Eichhorn.

„Die Menschen wissen, dass auch der Verbleib in Großbritannien wirtschaftliche Risiken birgt.“ Letztlich liege das Überwiegen der „No“-Stimmen im Referendum dennoch darin begründet, dass nicht genügend Schotten von den ökonomischen Vorteilen der Unabhängigkeit überzeugt gewesen seien, meint der Politikwissenschaftler.

Historisches Beispiel: Sowjetunion

Auch bei den meisten anderen separatistischen Bewegungen der jüngeren Vergangenheit haben wirtschaftliche Motive eine entscheidende Rolle gespielt. „Es geht ums Geld, das heißt um die Verteilung von Steuergeldern und darum, wer den wachsenden Schuldenberg zurückzahlen muss“, so Riedel.

Anhänger regionalistischer und nationalistischer Bewegungen fühlen sich häufig benachteiligt, weil die eigene Region viel Geld erwirtschaftet, das dann in ärmeren Landesteilen investiert wird.

Für den Untergang der Sowjetunion war die ökonomische Misere nach Jahrzehnten der kommunistischen Planwirtschaft und des Wettrüstens mit den USA im Kalten Krieg mitverantwortlich. Die Unzufriedenheit und Not in der Bevölkerung war hoch, viele Lebensmittel waren knapp.

Es war jedoch auch der Wunsch nach gesellschaftlichen Veränderungen und mehr Demokratie, der die Abspaltung der sowjetischen Teilrepubliken und damit das Ende der UdSSR beflügelte. Die Menschen sehnten sich nach dem Ende von Repression und Gewalt. Mit Gorbatschows Reformen der Glasnost und Perestroika verselbstständigte sich die Entwicklung in den 15 Teilrepubliken. Mit der Sezession der baltischen Staaten 1990 begann der Zerfall der Weltmacht Sowjetunion. Im Dezember 1991 beschloss das sowjetische Parlament die Auflösung des Staates.

Neben der Misswirtschaft und der Demokratiesehnsucht war ein weiterer Faktor entscheidend für die Auflösung der Sowjetunion: Der kommunistischen Führung war es nie gelungen, die zahlreichen Nationen und Ethnien in ein stabiles Gesamtgebilde zu integrieren.

Ethnische Spannungen in Jugoslawien

Ähnliche Gründe verursachten den Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens. Die reicheren Teilrepubliken Kroatien und Slowenien beanspruchten das bei ihnen erwirtschaftete Kapital für Investitionen im eigenen Land. Die ärmeren Länder Serbien, Bosnien und Herzegowina, sowie Mazedonien und Montenegro bestanden auf Ausgleichszahlungen zwischen den Ländern. Die Hyperinflation des Dinar verschärfte die Probleme. Nur durch die Intervention des Internationalen Währungsfonds konnte der Staatsbankrott abgewendet werden. Viele Menschen verloren ihr Erspartes.

In Serbien schwelte der Konflikt mit den Albanern im autonomen Kosovo. Nationalistische Tendenzen keimten in allen Teilrepubliken auf. Diskriminierungen und Anfeindungen zwischen den Völkern waren an der Tagesordnung. Statt zu schlichten und zu vermitteln, schürten Politiker und Intellektuelle die ethnischen Spannungen und die nationalistischen Gefühle der Menschen. Der ehemalige kroatische Staatspräsident Franjo Tudman etwa äußerte sich betont antiserbisch und antisemitisch.

Lockmittel kulturelle Identität

Die Betonung der kulturellen Eigenständigkeit und historisch gewachsenen Besonderheit sei ein Mittel, mit dem die separatistischen Bewegungen ihre Forderung nach einem eigenen Staat zu rechtfertigen versuchten, meint Politikprofessorin Riedel. „Dabei nutzen diese Bewegungen die Unkenntnis vieler Bürger, die oft wenig über ihre eigene Sprach- und Kulturgeschichte wissen.“ Der Blick werde so auf Differenzen statt auf kulturell Verbindendes gerichtet und die Unabhängigkeitsbewegungen erhielten starken Zulauf.

Ulrike Guerot (Foto:privat)
Ulrike Guerot, Politikwissenschaftlerin bei der Stiftung Open Society Initiative for Europe. (Foto:privat)

Ulrike Guerot betont einen weiteren Grund für das Aufstreben separatistischer Bestrebungen in der aktuellen Zeit. „Das Nicht-Funktionieren von Nationalstaaten und das Demokratiedefizit in Europa führen dazu, dass immer mehr Regionen selbstständig werden wollen“, sagt die Politikwissenschaftlerin, die bei der Stiftung Open Society Initiative for Europe das Projekt European Democracy Lab betreut, in dem sich Wissenschaftler mit der Zukunft der europäischen Demokratie beschäftigen.

„Von der EU gerufene Geister“

Regionalismus und Separatismus in Europa seien auch Geister, die die EU gerufen habe. „Seit Jahren reden Politiker von mehr Subsidiarität, von einer größeren Eigenständigkeit für die Regionen Europas“, so Guerot. Die derzeitigen Entwicklungen seien die logische Konsequenz dieser Debatte.

Die Politikwissenschaftlerin spricht in diesem Zusammenhang von der Singapurisierung der nach Unabhängigkeit strebenden Regionen. Diese hätten die Chance erkannt, als kleine, smarte und flexible Einheiten von der Globalisierung profitieren zu können, ohne Verantwortung im Sinne einer Hegemonialmacht in der Welt übernehmen zu müssen. Singapur sei ein Vorreiter: Es übernehme keine globale Verantwortung, aber als Finanzplatz profitiere es stark vom internationalisierten Weltsystem.

Den aktuellen Impetus separatistischer Bewegungen könnten betroffene Staaten und die Europäische Union jedoch auch nutzen, um Regionalismus und Demokratie konstruktiv neu zu denken, meint Guerot. „Die Frage, die im Mittelpunkt stehen muss, ist die, wie Demokratie so organisiert werden kann, dass sie funktioniert.“

Auch in der schottischen Gesellschaft werde weiterhin eine Diskussion über die politische Zukunft des Landes stattfinden, meint Eichhorn. Zwar haben sich die Schotten gegen die Loslösung von Großbritannien entschieden. „Die Bewegung ist aber auf keinen Fall tot“, sagt Eichhorn.

Zu sehr habe die Schotten in den vergangenen Monaten und Jahren die Aussicht auf ein unabhängiges oder zumindest stärker autonomes Schottland bewegt. „Zwar wird die Unabhängigkeit nach der Referendumsentscheidung nun erst einmal hinten angestellt werden“, so Eichhorn. „Es wird aber nun um weitere Devolutionen und Verhandlungen mit Großbritannien gehen.“

Man müsse aber abwarten, wie viel dabei erreicht werden könne. Wenn die Schotten mit den Kompetenzen, die sie erhalten, nicht zufrieden sein sollten, werde auch das Thema Unabhängigkeit in einigen Jahren wieder aktuell sein. Das „No“ vom 18. September könnte dann nicht das letzte Wort gewesen sein.


Glossar

Abspaltung: Abtrennung eines Gebietes von einem bestehendem Staat mit dem Ziel, einen eigenen souveränen Staat zu gründen, wobei der alte Staat nicht untergeht, sondern in verkleinerter Form bestehen bleibt; Ziel separatistischer Bewegungen.

Autonomie: Staatliche Autonomie bezeichnet die Fähigkeit eines Landes, die eigenen Angelegenheiten zu regeln, sich seine Gesetze selbst zu geben, sich selbst zu verwalten und eigene politische Entscheidungen zu treffen, ohne sich dem Einfluss anderer Länder unterordnen zu müssen. Innerstaatliche Autonomie bezeichnet die Berechtigung von Institutionen, ihre Verhältnisse eigenverantwortlich und ohne staatliche Einflussnahme zu regeln.

Devolution: Übertragung politischer und/oder administrativer Kompetenzen von einer zentralen Regierung an staatliche, regionale oder lokale Autoritäten; Insbesondere im Vereinigten Königreich gebrauchter Begriff für die Einrichtung lokaler Parlamente in Schottland, Wales und Nordirland und deren Ausstattung mit Kompetenzen in bestimmten Bereichen (z.B. Bildungs- und Umweltpolitik).

Regionalismus: Bewusstsein der Eigenständigkeit und Streben einer Region nach größerer Autonomie und nach der Institutionalisierung regionaler Interessen auf Kosten der Zentralmacht des Staates. Das Ziel von Regionalismus reicht von stärkerer Dezentralisierung bis hin zur Sezession (in letzterem Fall ist Regionalismus identisch mit Separatismus).

Separatismus: Politische Bewegung mit dem Ziel, ein bestimmtes Gebiet aus einem Staatsverband herauszulösen, um einen eigenen Staat zu gründen oder sich einem anderen Staat anzugliedern; Führt bei Erfolg zu Sezession bzw. Abspaltung.

Sezession: Siehe Abspaltung (lat. secessio = dt. Abspaltung, Trennung)

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