ContraDas Gute in uns
Fremdenhass und Egoismus: Ist Deutschland wirklich so kalt wie oft behauptet wird? Die Zahlen sagen etwas anderes. Solidarität ist immer noch hoch im Kurs.
Wer lang genug in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, stößt dort immer wieder auf den Hashtag #Kaltland. Er wird benutzt, wenn in Deutschland wieder einmal Flüchtlinge oder deren Unterkünfte durch einen rassistisch motivierten Angriff in den Fokus geraten oder auf eine andere Weise das Leben und die Zukunft der Schutzsuchenden beeinträchtigt werden. Im vergangenen Jahr geschah dies besonders häufig: Wie das Bundeskriminalamt kürzlich mitteilte, sind Flüchtlingsunterkünfte in 2015 mehr als vier Mal so oft angegriffen worden wie im Vorjahr (817 zu 199 Straftaten).
Diese Zahlen sind erschreckend, zeigen sie doch, dass die Gewaltbereitschaft deutlich höher ist, als es der bloße Aufschwung von Pegida und AfD vermuten ließ. Trotzdem wird es Deutschland nicht gerecht, wenn derartige Taten als alleinige Gradmesser für die scheinbar mangelnde Toleranz und Solidarität in der Bundesrepublik herangezogen werden. Es gibt auch die andere Seite. Die Menschen, die sich ebenso vehement für Flüchtlinge einsetzen, wie es selbsternannte Patrioten und besorgte Bürger für geschlossene Grenzen und Abschiebungen tun.
Ehrenämter helfen, wo Behörden versagen
Seitdem die Zahl der Vertriebenen deutlich zugenommen hat, engagieren sich in Deutschland zehntausende Freiwillige ohne viel Aufhebens, um Unterkünfte bereitzustellen, Kleidung zu sammeln und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten. In der medialen Berichterstattung geht das oft unter. Hier dominieren die brennenden Asylbewerberheime statt der Reportagen über Ärzte, die im Dauereinsatz Flüchtlinge behandeln. Die Wahrnehmung wird verzerrt. Ohne diesen Einsatz wäre die Herausforderung der Flüchtlingskrise trotz der Anstrengungen der Regierung aber nicht zu stemmen.
„Der größte Anteil ehrenamtlicher Arbeit wird investiert, wo Behörden versagen, angemessene Kommunikation und Umgang mit Asylbewerbern und Flüchtlingen zu ermöglichen“, heißt es in der Studie „Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit (EFA) in Deutschland“ des Berliner Instituts für empirische Integrations– und Migrationsforschung (BIM). Die überwiegende Mehrheit der Befragten gab an, nicht nur die humanitäre Situation der Flüchtlinge verbessern zu wollen, sondern auch „Gesellschaft zu gestalten“. Die Studie hat außerdem ermittelt, dass sich derzeit 70 Prozent mehr Ehrenamtliche in Hilfsorganisationen engagieren als noch vor wenigen Jahren.
Jeder sechste Deutsche engagiert sich
Überhaupt ist Deutschland ein Land der Ehrenämter. Laut dem Statistischen Bundesamt lebten Ende 2014 81,2 Millionen Menschen in Deutschland. Von diesen übten einer Umfrage zufolge 2015 mehr als 13 Millionen Bundesbürger ein Ehrenamt aus – fast jeder Sechste. Von den berufstätigen Deutschen übt jeder vierte ein Ehrenamt aus. Der überwiegende Teil der ehrenamtlich Tätigen investiert um die fünf Stunden pro Woche in ihre freiwillige Arbeit – in Sportvereinen, Kinder- und Jugendeinrichtungen oder für den Umweltschutz. In einem Artikel bezeichnete die Süddeutsche Zeitung Ehrenämter einmal in treffender Weise als „Kitt der Gesellschaft“. Sie sind vor allem auch ein Zeichen dafür, dass die Solidarität nicht ausgedient hat.
Ähnlich wie bei der Flüchtlingsarbeit deckt der freiwillige Einsatz in der Gemeinschaft Aufgaben ab, die der Staat nicht ohne Weiteres leisten kann. Davon profitieren alle im täglichen Miteinander. Das automatisch entstehende Zugehörigkeitsgefühl zu einer Stadt, einem Verein oder einer Schulklasse gibt uns Halt und das angenehme Gefühl, sich auf sein Umfeld verlassen zu können. Dabei mag es auch um vermeintlich banale Dinge gehen, wie sich beim Nachbarn ein Werkzeug auszuleihen.
Neben der aktiven Unterstützung ist in Deutschland die Hilfsbereitschaft über Sach- und Geldspenden hoch. Allein von Januar bis September 2015 haben die Deutschen 3,4 Milliarden Euro gespendet, wie das Marktforschungsinstitut GfK im Rahmen der „CharityScope“-Studie im November vergangenen Jahres bekanntgab. Damit seien sowohl die Anzahl der Spender als auch die Spendensumme im Vergleich zum Vorjahreszeitraum deutlich gestiegen, ein weiteres Rekordjahr werde erwartet. Bereits 2014 gingen insgesamt fast fünf Milliarden Euro aus privaten Geldspenden an gemeinnützige Organisationen, Hilfswerke und Kirchen (Parteispenden fallen nicht in diese Statistik). Zum Vergleich: 2016 will der Bund knapp acht Milliarden Euro zur Bewältigung der Flüchtlingsproblematik aufwenden.
Besondere Zuwächse im Spendenvolumen könne man in den Bereichen Tierschutz und humanitäre Katastrophen verzeichnen. Letztere umfassen nicht nur die Leistungen für Vertriebene in Deutschland, sondern beispielsweise auch für die Opfer des Erdbebens in Nepal.
Was die in nackten Zahlen messbare Solidarität angeht, ist Deutschland anscheinend auf einem guten Weg. Es wird nur höchste Zeit, dass das auch ins Bewusstsein drängt.
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