ContraKeine Opfer der Umstände
Die Anschläge und Attentate der vergangenen Wochen spielen rechtspopulistischen Parteien in die Hände. Doch ein Rechtsruck darf keine Alternative sein – denn wir sind nicht nur durch unsere Umstände geprägt.
Ich habe ein neues Morgenritual: Sofort nach dem Aufstehen checke ich den Nachrichtenticker. Fast täglich erscheinen über Nacht neue Eilmeldungen: „Lastwagen rast in Menschenmenge bei Nizza“, „Mehrere Verletzte bei Angriff in Regionalzug in Würzburg“, „Schüsse in Münchner Einkaufszentrum“, „Bombenanschlag in Ansbach“ – am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und im Bett bleiben.
Diese Nachrichten erschrecken, sie machen Angst. Ich bin nicht alleine mit diesen Sorgen. Eines jedoch unterscheidet mich von vielen meiner Nachbarn. Ich gehöre nicht zu jenen 25 Prozent, die bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im März 2016 die AfD gewählt hat.
Überall scheinen rechtspopulistische und euroskeptische Parteien an Zuspruch zu gewinnen, etwa in Polen, Frankreich, der Slowakei und Deutschland. Auch der Siegeszug des US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump gehört womöglich in diese Reihung.
Die Furcht vor dem Ungewissen
Es scheint die Angst vor dem Ungewissen zu sein, die die Menschen zunehmend in die Klauen rechtspopulistischer Gruppierungen treibt. Jene diffuse Angst davor, sich im eigenen Land nicht mehr sicher, ungehört und fremd zu fühlen, nutzen Parteien wie die AfD oder der französische Front National. Die Furcht vor Terroranschlägen und Amokläufen wird zu ihrem Instrumentarium.
Dabei ist Angst alles andere als ein guter Berater. Sie lähmt und verhindert klare und reflektierte Gedanken. Vielmehr sollte Vernunft und Wissen unser Handeln bestimmen. Beharrlichkeit, Mut und das Einstehen für die freiheitlichen, demokratischen Werte sind das einzige Mittel, um im Kampf gegen den Terrorismus Auswege zu finden. Wir können mitbestimmen, wir sind nicht Opfer der Umstände.
Der ehemalige uruguayische Präsident José Mujica sagte in einem Interview: „Die Weisheit ist nicht mein Eigentum, es ist die Weisheit der Gesellschaft. Ich bin ein Produkt meiner Lebensumstände, sonst nichts.“1 Aber wir sind nicht abhängig und handlungsunfähig, im Gegenteil, wir haben die Möglichkeiten, etwas zu bewegen und auf Ereignisse zu reagieren. Noch geht es uns gut, aber diese Sicherheit sollte nicht dazu führen, dass wir uns abschotten und jene Menschen alleine lassen, die um ihr Leben fürchten müssen.
Wir müssen aktiv werden. Wir dürfen nicht unsere Augen und vor allem unsere Türen vor dem verschließen, was „draußen“ passiert. Auch wenn wir uns hinter unsere nationalen Mauern zurückziehen, werden die Konflikte in der Welt weiter laufen. In einer globalen Gemeinschaft, in der wir wirtschaftliche und freundschaftliche Verhältnisse in der ganzen Welt unterhalten, kann und darf uns das nicht egal sein.
Angst als Schutzmechanismus ist natürlich und überlebenswichtig. Sie darf jedoch nicht zur Prämisse für Entscheidungen werden. Doch genau das fordern rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien. Sie nehmen die Ängste und Sorgen der Menschen scheinbar ungefiltert wahr, gewinnen ihr Vertrauen und damit Macht. Sie verteufeln das Fremde und fordern eine Rückbesinnung auf das Eigene, Vertraute. Geblendet von der Angst scheinen die Wähler nicht zu bemerken, dass diese angebotenen Alternativen nur scheinbare sind.
Die EU ist kein Selbstläufer
Seit fast 70 Jahren leben wir innerhalb der EU in Frieden miteinander. Ein Rückzug hinter die vermeintlich sicheren nationalen Grenzen würde einen Rückschritt bedeuten. Vor allem junge Menschen in Europa glauben nicht an die „heile Welt“ von früher. In einem internationalen Forschungsprojekt von Universitäten aus Deutschland, Österreich, Tschechien und der Ukraine haben Nachwuchswissenschaftler untersucht, wie europäisch sich junge Menschen fühlen.
Dabei wurde deutlich, dass viele von ihnen Europa als Chance und Bereicherung sehen, die sie auf keinen Fall missen möchten.2 Dennoch scheinen auch sie unsicher, was die Zukunft der Europäischen Union angeht. Noch fließt europäisches Blut in unseren Adern. Der beständige Aufschrei gegen die rechtspopulistischen Parteien und europafeindlichen Entwicklungen macht dies deutlich. Doch die EU ist kein Selbstläufer, wie der Brexit zeigt.
Aus der Geschichte lernen
Nicht wenige Historiker und Journalisten haben sich nach dem Wahlerfolg der AfD die Frage gestellt, ob es zu ähnlichen Verhältnissen kommen könnte wie damals, als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. In der Tat gleicht der Zustimmungsverlust der demokratischen Parteien dem am Ende der Weimarer Republik. Jedoch ist unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation heute deutlich stabiler als damals. Der Historiker Norbert Frei sieht daher weniger die Gefahr, dass Wähler bei den „Demokratieverächtern“ verharren – allerdings nur, wenn wir uns ernsthaft bemühen, sie für die Demokratie zurückzugewinnen.3
Noch hat ein Großteil der Deutschen keine Angst vor der Zukunft. Doch genau diese Menschen müssen jetzt die Ärmel hochkrempeln und ihre Nachbarn mitnehmen. Wir müssen unsere Angst gemeinsam besiegen und versuchen, den europäischen Gedanken zu stärken und die Probleme an ihren Urgründen anzugehen, nicht an ihren Resultaten.
1 Klaubert, David: „Die Linke hat nicht verloren“. José Mujica im Interview, in: faz.net vom 29.06.2016, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/amerika/jose-mujica-im-interview-die-linke-hat-nicht-verloren-14312319-p4.html?printPagedArticle=true#pageIndex_4
2 „Generation Innovation Across Europe“, vgl.: www.respekt.net/uploads/tx_alprojectfunding/Generation_Innovation_across_Europe_-_Interim_Report_0810.pdf
3 Reimann, Marieke: Nach dem Wahlerfolg der AfD: Stehen wir vor Verhältnissen wie zum Ende der Weimarer Republik?, in: ze.tt vom 15.03.2016, URL: http://ze.tt/nach-dem-wahlerfolg-der-afd-stehen-wir-vor-verhaeltnissen-wie-zum-ende-der-weimarer-republik/
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