8/8: Freie Wahlen, freie Frauen
Statt nur über Geschichte zu schreiben, wollen wir in sie eintauchen. Dafür lassen wir vor allem Zeitzeuginnen der frühen Frauenrechtsbewegungen – und ihre Gegner – selbst zu Wort kommen.
Am 30. November 1918 trat das lang ersehnte neue Reichswahlgesetz in Kraft. Dank ihm durften erstmals auch Frauen am 19. Januar 1919 in allen deutschen Bundesstaaten wählen und gewählt werden. Denn an jenem Tag fanden „allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlen“ zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung statt. 300 Frauen kandidierten für je ein Mandat. Immerhin 37 unter ihnen – insgesamt gab es 423 Abgeordnete – bekamen einen Platz im Parlament.
Dieser historische Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands wird umso bedeutsamer, wenn man sich den langen Kampf um die politische Gleichberechtigung von Frauen und Männern vor Augen führt. Damit unser Schwerpunkt zur Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen in Deutschland vor 100 Jahren nicht unvollständig bleibt, haben wir einige bemerkenswerte Aussagen mit Blick auf die oder direkt aus den Reihen der gewerkschaftlich-politischen Frauenbewegung gesammelt.
- Im April 1849 gründete die Journalistin Louise Otto (später: Otto-Peters) die erste politisch orientierte Frauenzeitung in Deutschland. Ihr Motto: „Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen“. In der ersten Ausgabe erklärte sie: „Wir wollen unsern Teil fordern: das Recht, das Rein-Menschliche in uns in freier Entwicklung aller unserer Kräfte auszubilden, und das Recht der Mündigkeit und Selbstständigkeit im Staat.“
- Otto-Peters forderte zudem als erste Frau öffentlich das Recht auf politische Mitwirkung ein. 1865 gründete sie hierfür den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, der für eine bessere Mädchenbildung und gleiche Chancen im Beruf eintrat − ein Zitat von ihr aus dem Jahr 1876: „Gleiches Recht für Alle! Gleiches Recht auf Entwicklung der eignen Anlagen, auf Bethätigung der Kraft, keine Schranken für die selbstständige Entfaltung!“
- Die Stimmung im Land war gegenüber den wachsenden Ansprüchen seiner Bürgerinnen alles andere als wohlgesinnt. So hatte der Historiker Heinrich von Sybel wenige Jahr zuvor mit Billigung der Öffentlichkeit festgestellt: „Die Verheirathete ist Eins mit ihrem Manne, beide zusammen haben nach außen nur einen Willen, und dieser wird in politischen Dingen von dem Manne vertreten.“
- Helene Lange, Lehrerin und eine weitere Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, kam deshalb in der internationalen Zeitschrift Cosmopolis 1896 zu dem ernüchternden Ergebnis, dass der Zeitpunkt der Einführung des Frauenwahlrechts „in den verschiedenen Ländern ein sehr verschiedener sein wird“ und dass „Deutschland mit seiner lastenden Büreaukratie, seinem Schematismus und Militarismus in dieser Frage am allerweitesten zurück ist.“
- Zum Glück behielt Lange nicht recht. Doch noch im Dezember 1907 erklärte Friedrich Bindewald von der Deutschen Reformpartei anlässlich der Beratung des Vereinsgesetzes im Reichstag: „Die Frauen gehören ins Haus, und wir wollen nicht, daß die Frau von ihrer idealen Stellung, die sie als Mutter und Erzieherin der kommenden Generation einnimmt, herabsteigt in das Getriebe des politischen Lebens.“
- Aus dem selben Jahr stammt das folgende Zitat Clara Zetkins, entnommen ihrer Schrift „Zur Frage des Frauenwahlrechts“. Zetkin kritisiert: „Das Frauenstimmrecht wurde auch von den vereinzelten bürgerlichen Politikern schnöde im Stich gelassen, die in der Theorie für diese Forderung schwärmen und von den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen als die verdienstvollsten und zuverlässigsten Vorkämpfer für die volle Gleichberechtigung der Geschlechter über den grünen Klee gefeiert werden. So der Ueberall-und-nirgends-Herr v. Gerlach. Er verbeugte sich zwar verbindlich lächelnd vor dem Prinzip des Frauenwahlrechts, schlachtete es aber skrupellos den ‚parteipolitischen‘ Interessen des Freisinns. Auch er betonte, aus ‚Zweckmäßigkeitsgründen‘ gegen die Forderung und ihretwegen gegen den ganzen sozialdemokratischen Antrag zu stimmen.“
- „Die Frau wird der Soldat im Hinterland genannt. Staatsmänner preisen die Vorzüge, die sie in der Kriegszeit getätigt haben, man rühmt jetzt ihre Intelligenz und Geschicklichkeit, ihren Fleiß und ihre patriotische Tugend“, heißt es am 17. März 1916 auf der ersten Seite der Arbeiterinnen-Zeitung in einem Kommentar, der zu dem Schluss kommt: „So viele Vorzüge und keine Rechte!“
- Kleine Erfolge kannte die Frauenrechtsbewegung in Sachen Wahlrecht zwar. Etwa die 1917 vom Sozialdemokrat Eduard Bernstein im Reichstag eingebrachte Resolution für einen Gesetzesentwurf zugunsten der Gleichbehandlung der Geschlechter. Unterstützung dafür kam aber nur von SPD und USPD. Die bürgerlichen Parteien stimmten dagegen. Die Frau „gehöre nicht in die Öffentlichkeit“, denn „in der Familie würde das Frauenwahlrecht die merkwürdigsten und bedauerlichsten Folgen haben“. So müsste ja in Ehe und Familie „politisch gekämpft und abgestimmt werden. Das eröffne außerordentlich bedauerliche Ausblicke“, wurde argumentiert.
- Doch die Traditionalisten standen auf verlorenem Posten. Die Geburtsstunde des Frauenwahlrechts in Deutschland am 12. November 1918 war nicht mehr aufzuhalten. So lautete denn auch der Aufruf vom Rat der Volksbeauftragten an die Deutschen: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“
- Im Dezember 1918 verlautbarte die sozialdemokratische, von Emma Ihrer gegründete Zeitschrift Die Gleichheit auf der Titelseite begeistert: „Heute sind die deutschen Frauen die freiesten der Welt.“
- Als erste Frau in einem deutschen Parlament sprach am 19. Februar 1919 Marie Juchacz aus Berlin, einst Dienstmädchen, Krankenschwester und Schneiderin. Und was die seit 1905 aktive Sozialdemokratin das Parlament wissen ließ, hätte nicht selbstbewusster formuliert werden können: „Ich möchte hier feststellen …, daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“
Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit