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ContraWir lassen uns nicht mehr stressen

Von Sebastian Fobbe / 30. Juni 2023
picture alliance / Zoonar | Andreas Berheide

40 Stunden die Woche schuften? Nein, danke! Viele Menschen überdenken ihre Prioritäten und wollen flexibler oder sogar weniger arbeiten. Was früher wenigen, privilegierten Leuten vorbehalten war, erreicht jetzt immer mehr Menschen. Gut so!

Willkommen auf dem Arbeitnehmermarkt! Die Fachkräfte sind rar, etliche Stellen unbesetzt. Wir haben endlich die freie Wahl. Zu viel Stress, zu wenig Freizeit, zu wenig Flexibilität – alles gute Gründe, um nach einem besseren Job Ausschau zu halten. Das verleiht den Beschäftigten die Macht, die sie brauchen, um gute Arbeitsbedingungen durchzusetzen.

Zugegeben, das klingt doch alles noch ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Aber tatsächlich kommen wir diesem Szenario immer näher: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat im vergangenen Jahr ausgerechnet, dass bis 2035 sieben Millionen Beschäftigte in Rente gehen werden. Gleichzeitig rücken aber nicht genug Fachkräfte nach. Die Babyboomer-Generation hinterlässt gähnende Leere auf dem Arbeitsmarkt.

Das Kräfteverhältnis dreht sich um

Das kann man positiv sehen: Wer jetzt ein Studium oder Ausbildung abschließt, wird bald die Wahl zwischen mehreren freien Stellen haben. Die Zeit, in denen sich die Unternehmen eine schamlose Bestenauslese leisten konnten, geht damit allmählich zu Ende.

Das macht sich schon jetzt bemerkbar. Vor Kurzem lamentierte die Personalchefin eines großen Unternehmens in einem Artikel bei Zeit online, sie fühle sich in Vorstellungsgesprächen immer häufiger so, als wäre sie diejenige, die sich bewerben müsse – um Fachkräfte –, und nicht andersherum.

Ein leergefegter Arbeitsmarkt bedeutet nichts Geringeres als Verhandlungsmacht: Wer gute Arbeitsbedingungen will, wird sie einfordern können. Flexible Arbeitszeiten, höhere Löhne, mehr Urlaubstage und andere Annehmlichkeiten – in Zukunft muss sich niemand mehr als dreist bezeichnen lassen, der im Bewerbungsgespräch auf sein Recht auf selbstbestimmtes Arbeiten pocht.

Boost durch Corona

Hier hatte auch die Coronapandemie ihre gute Seite. Als vor drei Jahren nahezu alle Bürojobs ins Homeoffice verlagert wurden, begann ein beispielloses wirtschaftliches Unterfangen, das inzwischen mit aller Deutlichkeit bewiesen hat: Es ist völlig egal, ob die Menschen im Büro oder zu Hause arbeiten. Die Ängste vieler Personaler:innen, ihre Angestellten könnten im Homeoffice ihre Arbeitszeit im Garten oder in der Küche verplempern, hat sich als absolut unbegründet herausgestellt.

Dieses coronabedingte Realexperiment hat zusätzlichen Schwung ins selbstbestimmte Arbeiten gebracht. Unternehmen, die nicht wie selbstverständlich mobiles Arbeiten anbieten, gelten seitdem als altbacken – und sind damit wenig attraktiv für die raren Arbeitskräfte.

Ein Privileg, das sich etabliert

Ja, noch ist es ein Privileg, die Arbeitsbedingungen frei gestalten zu können. Denn natürlich: Pflegekräfte, Erzieher:innen oder Handwerker:innen können ihren Arbeitsplatz nicht einfach so ins Homeoffice verlagern, wenn ihnen danach ist.

Aber gerade in der Pflege macht sich der Fachkräftemangel besonders stark bemerkbar. Viele Krankenhäuser schreiben mittlerweile gar keine Stellen mehr offiziell aus – ganz einfach, weil sowieso allen klar ist, dass Pflegekräfte gesucht werden.

Wer mit seinem Job in der Pflege unzufrieden ist, kann ihn theoretisch jederzeit wechseln. Bitte nicht falsch verstehen: Die Arbeit in Kliniken und Heimen ist knochenhart und gemessen an dem, was die Pflegekräfte leisten, werden sie miserabel bezahlt. Daran gibt es nichts schönzureden. Trotzdem ist es eine Form der Selbstwirksamkeit, wenn man im Zweifel jederzeit kündigen kann und sich eine andere Arbeitsstelle suchen will.

Neue Prioritäten

Was außerdem Hoffnung macht: Die sogenannte Generation Z scheint selbstbewusster als jede vor ihr. Vielen jungen Menschen ist es zuwider, sich für Geld und Karriere aufzuopfern. Wahrscheinlich aus zwei Gründen: Zum einen sehen sie, wie sich ihre Eltern bis zum Burnout abgemüht haben. Zum anderen fehlt ihnen schlicht und einfach der Anreiz, „in die Hände zu spucken“, denn weder ein Eigenheim noch eine würdige Rente im Alter scheinen für Normalverdiener:innen noch im Bereich des Machbaren zu liegen.

So gesehen hat es nichts mit Faulheit oder Arbeitsscheue zu tun, wenn sich junge Erwachsene bewusst weigern, sich ausbeuten zu lassen. Hier dominieren andere Prioritäten. Statt auf Karriere zu setzen, geht es um Selbstverwirklichung. Auf diesen Kulturwandel wird die Wirtschaft reagieren müssen. Um Fachkräfte zu binden, müssen Unternehmen künftig mehr anbieten. Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.

All das wird zwangsläufig darin münden, dass immer mehr Menschen in den Genuss des selbstbestimmten Arbeitens kommen werden. Und dabei haben wir noch gar nicht über den technischen Fortschritt gesprochen. Schon 1930 hatte der Ökonom John Maynard Keynes prophezeit, die Menschen würden in einhundert Jahren nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten. Das erscheint fraglich. Aber wer weiß, ob die künstliche Intelligenz nicht vielleicht doch eine Chance ist, uns allen ein bisschen mehr Freizeit und weniger Stress zu bescheren? Das wäre ja schon mal ein Anfang.



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