Alle unter einem Dach
Im Haus am Beerenpfuhl finden Jung und Alt zueinander: Die ins Wohnaus für Senioren integrierte Kita ermöglicht eine für beide Seiten lohnende Begegnung – und wirkt so einem Defizit unserer Leistungsgesellschaft entgegen.
Wenn Cristiano, drei Jahre alt, von seinem Papa Kevin aus dem Kindergarten abgeholt wird, hat er viel zu erzählen. Dabei schildert er häufig Erlebnisse, die er im Laufe des Tages mit älteren Menschen geteilt hat. Damit sind allerdings weniger seine Erzieher gemeint, sondern vielmehr die Mieter im Haus am Beerenpfuhl im Berliner Stadtteil Hellersdorf. Seit dem 1. Oktober 2014 ist Cristianos Kita Am Beerenpfuhl im Erdgeschoss der Wohnanlage für Senioren integriert – und dadurch zu einem Begegnungsort der Generationen geworden.
Allzu viele davon gibt es in Deutschland noch nicht. Neben einigen Kooperationen und Projekten verfolgt in Berlin nur die Kita Hand in Hand am WuhleAnger in Marzahn ein vergleichbares Konzept der generationenübergreifenden Betreuung.
Diese umfasst pädagogische Angebote, die gemeinsame Aktivitäten und Berührungspunkte für Jung und Alt im Alltag etablieren. Kathrin Sobottka, stellvertretende Leiterin der Hellersdorfer Kita, ist sich sicher, dass diese Art der Betreuung langfristig eine größere Rolle spielen wird. „Intergenerative Einrichtungen sind definitiv im Kommen. Wir merken tagtäglich, wie das Tür-an-Tür-Leben für einen stetigen Austausch sorgt und allen hier Freude bereitet.“
Bewohner als Großeltern-Ersatz
Dieser Austausch äußert sich in der Kita Am Beerenpfuhl unter anderem in gemeinsamen Bastelstunden, Spaziergängen, musikalischen Einlagen oder Einsätzen in der großen hauseigenen Gartenanlage. Es wird gekocht, getanzt und vor allem viel gelacht. Mindestens einmal pro Woche findet eine größere Aktion statt.
Die 22 Zwei- bis Sechsjährigen aus der Kita der JAO gGmbH werden so an die ältere Generation herangeführt. Besonders Menschen in der Kurzzeit- oder Tagespflege besuchen gerne die Kita. Aber auch von denjenigen Senioren, die eine Wohnung gemietet haben oder in einer Wohngemeinschaft leben, kommen viele regelmäßig vorbei.
Für beide Seiten birgt das Zusammenkommen Vorteile. Die Älteren schätzen die unbefangene und ungezwungene Art der Kinder und genießen es, gebraucht zu werden. Schließlich gibt es kaum etwas Effektiveres gegen Einsamkeit als ein ehrliches Kinderlachen.
Auch die Kinder sind begeistert von den Begegnungen. Oft wohnen ihre Großeltern weit weg, manche haben aus den verschiedensten Gründen keinen Kontakt mehr zur Familie. In solchen Fällen können die Bewohner des Haus am Beerenpfuhl in gewisser Weise einen Ersatz darstellen oder überhaupt einen Zugang zu älteren Menschen bieten. Viele Kinder nennen ihre Nachbarn und Spielkameraden deshalb auch Oma und Opa. „Zwar ist es bei uns allgemein üblich, die Bewohner mit ihrem Nachnamen anzusprechen, doch die meisten freuen sich auch und lassen es zu, wenn sie Oma oder Opa genannt werden“, erklärt Kathrin Sobottka.
Ein Mehrgenerationenhaus für Familienmenschen
Durch den selbstverständlichen Kontakt mit älteren Mitmenschen gehen die Kinder später bewusster und unaufgeregter mit verschiedenen Lebenssituationen um. Sie lernnen, dass Menschen unterschiedlich sind und dennoch gemeinschaftlich zusammen sein können.
„Der vertraute Kontakt mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen lässt Kinder auch später Rücksicht auf andere nehmen, statt sie abzulehnen“, sagt Herbert Großmann von der Pflegewohnzentrum Kaulsdorf-Nord gGmbH, dem Träger der Einrichtung.
Interessant ist es zu sehen, wie aufmerksam die Kinder bereits jetzt gegenüber den älteren Menschen sind. So konnte man zum Beispiel bei Ausflügen beobachten, dass sich die Kinder Gedanken über einen barrierefreien Weg gemacht haben, damit eine ältere Dame im Rollstuhl an dem Ausflug im Wohnumfeld teilnehmen konnte.
Dass das Haus am Beerenpfuhl überhaupt zum Mehrgenerationenhaus wurde, ist für Herbert Großmann keine Überraschung. „Viele Menschen, die zu uns kommen, sind selbst Mutter oder Vater, Oma oder Opa, kommen also aus Familien. Deshalb ist es etwas ganz Natürliches, was wir hier machen“, so Großmann.
Kinderlärm kostet Kraft
Obwohl die Begegnung der Generationen das erklärte Ziel ist, beschränkt sich der tatsächliche direkte Kontakt auf wenige Stunden am Tag. „Andernfalls droht man beide Altersgruppen zu überfordern“, erklärt Herbert Großmann. Gerade bei den Kindern sei die Konzentration nicht uneingeschränkt strapazierbar, sie brauchen Abwechslung. Für die Senioren könne Kinderlärm zwar etwas sehr Erfüllendes sein, koste aber genauso Kraft. „Das ständige Auf und Ab der Kinder, dieses Wirre, das sorgt dann doch dafür, dass sich die älteren Menschen nach einer Weile zurückziehen wollen“, so Großmann. „Eine Rentnerin war nach anderthalb Stunden bei uns am Vormittag so erschöpft, dass sie sich schlafen gelegt hat und erst abends wieder aufwachte“, erzählt Kathrin Sobottka.
Inzwischen beteiligen sich auch die Väter und Mütter der Kita-Kinder eifrig mit eigenen Ideen für Begegnungen – anders als noch in der Anfangszeit. „Zu Beginn waren wir für viele wohl schlicht deshalb interessant, weil wir in der schwierigen Kinderbetreuungssituation in Berlin einen Kita-Platz angeboten haben“, sagt Kathrin Sobottka. „Mittlerweile kommen Eltern gezielt wegen unserem Betreuungskonzept zu uns.“
Fehler in der Leistungsgesellschaft
Auch Cristianos Vater Kevin ist begeistert: „Unser Sohn war erst in einer anderen Kindertagesstätte, mit der wir allerdings nicht zufrieden waren. Dann haben wir uns bewusst für diese Form der Betreuung entschieden, die ihm gerade in dieser kleinen Gruppe eine individuellere Förderung zukommen lässt.“
Dass generationenübergreifende Betreuungsformen hierzulande erst seit einigen Jahren an Bekanntheit gewinnen, schreibt Herbert Großmann der deutschen Leistungsgesellschaft zu. „Es werden grundlegende Fehler gemacht, wenn Menschen ab einem bestimmten Alter aus der Gesellschaft gekippt werden. ‚Ihr seid nicht mehr produktiv, ihr werdet nicht mehr gebraucht.‘ Da ist unsere Gesellschaft als rückständig zu bezeichnen, wenn der Mensch nur noch als Defizit gesehen wird und nicht mehr als Ressource.“ In Japan, wo das traditionelle Leben in der Großfamilie zunehmend durch modernere Formen ersetzt wird, gibt es beispielsweise seit den 1980er Jahren intergenerative Einrichtungen, die diesen Prozess ausgleichen.