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EUtopia? – Ein Stimmungsbild

Von Julia Berghofer / 3. März 2016
picture alliance / Klaus Ohlenschläger | Klaus Ohlenschläger

Selten hat sich die Fragilität der Europäischen Union mit solcher Vehemenz offenbart wie derzeit. Krisen von allen Seiten gefährden die Solidarität, der Weiterbestand der EU wird angezweifelt. Grund zur Hoffnung scheint es dennoch zu geben, wie Stimmen aus Brüssel zum „State of the Union“ zeigen.

Die EU, Anfang 2016: viele Krisen, viele Brände, die gelöscht werden müssen. Dass sich 28 politisch, ökonomisch und kulturell unterschiedliche Staaten zu einem kollektiven Projekt zusammengeschlossen haben, glich anfangs einer Utopie. Angesichts der schwerwiegenden Probleme stellt sich heute wieder die Frage, ob die EU als Idee ausgedient hat.

Mit einer Antwort darauf tut man sich schwer. Dennoch ist ein Blick nach Brüssel, ins oft verspottete Herzstück der EU, aufschlussreich. Dort zeigt sich abseits der bürokratischen Ebene, dass viele Menschen die Hoffnung haben, mit der Union könne es wieder bergauf gehen.

Den demokratischen Gedanken nicht aufgeben

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Klaus Röhrig (Foto: Green Budget Europe)

Klaus Röhrig ist 27 und kam nach seinem Studium in Maastricht, Konstanz und Grenoble nach Brüssel. Dort arbeitet er seit einigen Monaten als Referent für Klima und Energie bei Green Budget Europe, einer Non-Profit-Organisation, die unter anderem für nachhaltige Steuersysteme Lobbyarbeit macht. Die Grundidee eines geeinten Europas ist für ihn Teil eines größeren globalen demokratischen Experiments hinsichtlich der Frage, wie sich menschliche Gesellschaften trotz unterschiedlicher Sprachen und Identitäten friedlich und mit dem größtmöglichen Nutzen für alle organisieren wollen und können.

Gleichzeitig erlebt er mit, wie sich die Atmosphäre in Brüssel mit der Krise verändert hat. „Momentan ist die allgemeine Stimmung rund um das europäische Integrationsprojekt recht zwiegespalten und eher pessimistisch“, sagt Röhrig. Als besonders problematisch empfindet er, dass die Krisen eine „Phase der Renationalisierung“ widerspiegelten. „Damit verbunden ist ein Integrationsstopp und die Rückbesinnung auf nationale Identitäten, was sich insbesondere in den jüngeren Demokratien zeigt.“

Die Probleme, so Röhrig, könnten neben der Gefahr dennoch auch ein großes Potenzial bergen. „Die Krisen rücken die EU ins öffentliche Bewusstsein. Und es gibt sie eben doch noch zuhauf, die weltoffenen Europäer und Vordenker, hier in Brüssel und Zuhause.“ Die EU an sich habe definitiv eine Zukunft, doch ihre jetzige Ausgestaltung müsse sich in vielen Bereichen, Institutionen und Strukturen grundlegend ändern.

Die Paradoxien der EU zeigen sich für Klaus Röhrig auch im Stadtbild Brüssels: Auf der einen Seite liegen die Botschaften, Banken und Institutionen im elitären Stadtteil Schuman. Keine 500 Meter vom Europäischen Parlament entfernt, im Stadtteil Schaerbeek, leben vor allem türkischstämmige Familien. Viele EU-Beamte würden diesen Bereich nicht betreten, weil sie ihn für heruntergekommen und sogar gefährlich halten.

Großbritannien in der EU halten: Cambridge vs. Brexit

Auch Julie Smith, 46, gehört zu den überzeugten EU-Befürwortern und hält die Union für ein Projekt, das man besonders jetzt nicht preisgeben dürfe. Smith ist Professorin für Politikwissenschaften mit Schwerpunkt Europapolitik an der Universität Cambridge und selbst politisch tätig. Als Gemeinderätin der britischen Liberaldemokraten vertritt sie ihre Partei im House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments.

Im Januar ist Julie Smith nach Brüssel gereist, um vor Ort mit Politikern, NGO-Vertretern und Journalisten über den Verbleib Großbritanniens in der EU zu debattieren. Smith leitet das Projekt Cambridge for Europe. Es soll junge Menschen dazu bringen, sich mit den Werten der EU auseinanderzusetzen und im Vereinigten Königreich für einen pro-europäischen Ansatz werben.

„Wir wollen, dass die Leute uns unterstützen”, sagt Smith, „dass sie an die Türen klopfen und die Menschen von der EU überzeugen. Politische Parteien machen das ja auch.“ Seit sie sich erinnern könne, erzählt die Cambridge-Professorin, habe sie die EU als immens wichtig erlebt, um die Menschen zusammenzubringen, im gegenseitigen Vertrauen auf Frieden und Sicherheit. „Als klar wurde, dass es ein Referendum geben würde, habe ich das Gefühl bekommen, aktiv werden zu müssen.“

Die Brüsseler Atmosphäre nimmt sie, ähnlich wie Röhrig, als gespalten wahr. Auf der einen Seite merke sie, dass Camerons Versuche, die Briten in der EU zu halten, ein konstruktives Signal in der EU setzten. Andererseits seien die meisten EU-Parlamentarier und Diplomaten schon allein mit ihren nationalen Problemen, wie etwa der Flüchtlingsdebatte, überlastet. Dennoch ist Smith zuversichtlich: „Wir alle sind als europäisches Volk vereint, auch wenn wir unsere eigenen nationalen Identitäten haben. Unsere größte Hoffnung sind die jungen Europäer.“

Die Zukunft Europas

Damit gemeint sind Menschen wie Zita Koers und Hauke Bruhn. Beide interessieren sich für europäische Politik und reisen gerne. Als Schülerpraktikanten bei einer politischen Stiftung durften sie im Februar eine Woche Brüsseler Luft schnuppern.

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Zita Koers (Foto: privat)

„Ich habe in Brüssel den Eindruck bekommen, dass Europa eine starke Idee ist, die auch in Krisenzeiten bestehen kann“, sagt Koers. Doch die 17 Jahre alte Oberstufenschülerin aus Lübeck sorgt sich: Bei den politischen Veranstaltungen, die sie in Brüssel besucht hat, habe sie großen Pessimismus bemerkt. „Mir schien es, als seien Wut und Frustration derartig groß, dass nach einem Schuldigen gesucht wird.“ Besonders deutlich sei dies in einer Ausschusssitzung des Europäischen Parlaments über die dänische Flüchtlingspolitik gewesen. „Die Stimmung war so schlecht, dass die Situation eskaliert ist und die Teilnehmer verbal aufeinander losgegangen sind.“

Der 20 Jahre alte Hauke Bruhn aus Nordschleswig hat die Arbeits- und Lebensweise der Menschen in Brüssel sehr positiv erlebt: „Ich habe überall ein offenes Ohr gefunden und die Leute haben sich, trotz des Stresses, Zeit für mich genommen. Sie können auch mal abschalten und sich von all den Problemen distanzieren, um den Feierabend zu genießen.“

Die EU wirke auf Bruhn wie ein „gut funktionierender Apparat“, in dem allerdings viel Zeit für teils unnötige Prinzipiendiskussionen verloren gehe. Trotzdem glaubt er, dass die Länder, die über einen Austritt nachdenken, diesen bereuen würden. Zika Koers und Hauke Bruhn glauben beide an die Zukunft der EU – eine, an der sie vielleicht selbst irgendwann aktiv mitwirken können.

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