Nicht nur eine Frage des Geldes
Armut hat viele Gesichter. Pleite sein ist nur eines. Wenn Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten nicht mehr miteinander in Kontakt kommen, kann daraus kulturelle Verarmung resultieren.
Montagnachmittag. Maike und Jan laufen auf der Straße in unterschiedliche Richtungen. Beide sind neun Jahre alt, Grundschüler. Sonst haben die Kinder wenig miteinander gemein. Während Maike, aus einer Akademikerfamilie stammend, auf dem Weg zum Klavierunterricht ist, läuft Jan, Sohn von Eltern, die sich prekär von Job zu Job hangeln, nach Hause, um dort alleine seine Hausaufgaben zu machen. Ihr Alltag jenseits der Schule könnte unterschiedlicher kaum sein. Denn Maike ist reich, Jan arm. Und das ist nicht nur eine Frage des Geldes.
Wenn wir über Armut sprechen, drehen sich die Gespräche in aller Regel um materiellen Mangel. Doch das Problem ist vielfältiger. Es gibt im reichen Deutschland vor allem eine kulturelle Armut, die daher rührt, dass Menschen verschiedener Schichten nicht mehr miteinander kommunizieren. Sie leben in zwei Welten, verfolgen unterschiedliche Interessen. Auch bei Maike und Jan klafft eine Schere immer weiter auseinander, was nicht nur am Kontostand der Eltern sichtbar wird, sondern auch im täglichen Leben über den Alltag hinaus Auswirkungen zeigt: verringerte Aufstiegschancen und ein Mangel an sozialer Verständigung.
Der mit „Gentrifizierung“ bezeichnete sozioökonomische Strukturwandel bestimmter städtischer Viertel markiert vor allem die räumliche Ursache dieser Kluft. Maikes Eltern wohnen in einer gepflegten Reihenhaussiedlung in guter Lage. Jans Eltern mussten aufgrund steigender Mieten in ein abgelegenes Wohngebiet mit einer schlechteren Infrastruktur ziehen, was nicht nur brüchige Straßenbeläge und verwahrloste Parkanlagen meint. Auch der Zustand öffentlicher Einrichtungen wie Kindergärten oder Schulen lässt sich meist nur mit „mangelhaft“ beschreiben.
Jeder bleibt für sich
Dabei geht es natürlich um finanzielle Ressourcen, die auch bei gleichen staatlichen Zuwendungen sehr unterschiedlich sein können. So gibt es an Maikes Schule – und an Jans eben nicht – einen aktiven und finanzkräftigen Elternverein, der viel Geld in die zusätzliche Ausstattung der Schule (wie Computer, Laptops, Medientechnik) investiert. Es geht aber auch um gewollte, zugelassene Abschottung.
Denn durch die Gentrifizierung bleibt jeder für sich. Kinder wie Maike auf der einen Seite, Kinder wie Jan auf der anderen. Das gilt für den Schulhof wie für den Spielplatz. Eine Begegnung zwischen den Maikes und Jans unserer Gesellschaft wird immer seltener. Dabei wäre dieser (frühe) Austausch so wichtig für einen sozialen Aufstieg; ohne Kontakt bleibt auch die soziale Durchlässigkeit gering. Vielleicht würde Jan auch Klavier spielen wollen, wenn ihm Maike davon erzählte. Und weiter geblickt: Sollte Jan studieren wollen, wird er erst einmal auf sich allein gestellt sein, während Maike Unterstützung aus ihrem Umfeld erfahren wird. Von hilfreichen Kontakten beim Einstieg ins Berufsleben ganz zu schweigen.
Ja, unterschiedliche soziale Milieus gab es in der Vergangenheit, nur waren die Mauern dazwischen auch schonmal niedriger, was an der heute oft antiquiert anmutenden Vereinskultur mit ihren Schützen- und Sportvereinen, Landjugenden und Kirchengruppen gelegen haben könnte. Der Punkt ist: Hier wären sich Jan und Maike trotz ihrer Herkunft tatsächlich begegnet.
Ökonomisch benachteiligt, gesellschaftlich ausgegrenzt
Vermutlich hätten sich Jan und Maike aber gar nicht viel zu erzählen: Maikes Eltern achten sehr darauf, was Maike liest oder im Fernsehen schaut und gehen zudem häufig mit ihr ins Theater oder Konzert. Jan hingegen verbringt oft Stunden vor seinem PC und schaut sich wahllos Videos und Serien an. Die Interessen der beiden Grundschüler sind so verschieden – worüber sollten sie da reden? Ganz abgesehen von der Förderung, die Maike erfährt und Jan nicht – mit unmittelbaren Folgen für den schulischen Erfolg.
Wenn soziale Gruppen letztlich aus Unkenntnis und Abneigung immer weiter auseinanderdriften, weil eine ökonomische Benachteiligung zu einer gesellschaftlichen Ausgrenzung oder einem schambehafteten Rückzug führt, gefährdet dies den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die viel zitierte „Bubble“ – also Filterblase – in den sozialen Medien existiert nicht nur auf Facebook und Twitter, sondern natürlich auch in der analogen Welt. Mit Nachteilen für alle. Und dann liegt die Schuld nicht bei irgendwelchen Algorithmen.
Die steigende Zustimmung zu populistischen Parteien zeigt zudem, was politisch passiert, wenn sich verschiedene Bevölkerungsgruppen mangels Verständnis füreinander nur noch ablehnend gegenüberstehen. Dabei ist die Bekämpfung von Armut mitnichten nur eine finanzielle Frage. Es geht vielmehr um eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, einen gleichberechtigen Austausch der Menschen untereinander und ja, auch um ein Interesse an „dem anderen“. Doch solange die Kluft zwischen arm und reich, in dem hier gemeinten erweiterten Sinn, nicht verringert wird, solange bleibt der Wunsch vom sozialen Aufstieg für Kinder wie Jan nur ein unrealistischer Traum.