#ReclaimTradition
Sind Traditionen wert, bewahrt zu werden und für sie einzustehen? Wie stiftet man eigene Traditionen und erhält diese aufrecht? Ein Plädoyer für die ein oder andere gute Gepflogenheit.
Der Morgen danach
Es war einige Tage nach unserer Tanz-in-den-Mai-Party, dass ich ins Nachdenken kam. Mir war aufgefallen, dass Paula (Name geändert) am Ende der Feier den letzten übrig gebliebenen tanzfreudigen Gästen keinen Kaffee angeboten hatte, wie sonst immer. Was war da los? Irgendwie war alles ein bisschen anders gewesen als die Jahre zuvor, etwas hatte sich verschoben. Verändert sich hier etwas, und wenn ja, in welche Richtung?, fragte ich mich.
Tradition – von gestern?
An Traditionen festzuhalten mag für manche überholt sein. Aber was ist eigentlich Tradition? Ich verstehe Tradition als die Weitergabe von Handlungsmustern und/oder Überzeugungen innerhalb sozialer Gruppen und zwischen Generationen. Tradition wirkt maßgeblich sinnstiftend und kann für Zusammenhalt sorgen, wo unterschiedliche Sozialisierungen zu Ausschlüssen führen könnten. Im besten Fall begründet sie ein Gefühl von Sicherheit in einer unübersichtlich großen Welt. Denn dort, wo Menschen der Instinkt fehlt, kann Tradition Orientierung geben. Sie kann als Eckpfeiler für Kultur stehen.
Natürlich gibt es auch Traditionen, bei denen Individuen – per Definition – ausgeschlossen werden. In Zeiten von Globalisierung und Social Media 2.0 könnte man sogar argumentieren, dass lokale Gepflogenheiten als überholt gelten müssten. Nicht wenige Menschen entziehen sich den Riten und Glaubenssätzen, mit denen sie aufgezogen wurden. Ihr Weltbild verändert sich und sie stellen fest, dass bisherige Überlieferungen und Erklärversuche die neue Weltsicht einengen. Für mich gilt jedoch gerade dann: Vielleicht liegt es an uns selbst, zu handeln und neue Traditionen zu stiften, anstatt Tradition per se als „gestriges“ vom Tisch zu fegen, weil Individualismus heute mehr zu zählen scheint als das Kollektiv.
Die Geburt einer Tradition
In Kreuzberg steht irgendwo zwischen Kotti und Görli ein Haus, dessen Bewohner in den letzten Jahrzehnten eine starke Hausgemeinschaft entwickelt haben. Wir, die Bewohner, sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus verschiedenen Teilen Deutschlands und der Welt. Es gelang uns, das Haus mehr oder minder selbst zu verwalten. Und damit begann die Transformation des Gebäudes. Wir fingen an, unseren Hinterhof zu bebauen. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem wir zusammenkommen können, abhängen, diskutieren, grillen und feiern. Heute ist er ein Relikt aus längst vergangenen Jahren, in denen man sich in Berlin sein Umfeld gestaltet hat, wie man wollte, ohne viel Einmischen der Hauseigentümer. Unser Hinterhof gleicht heute mehr einem Club als einem üblichen Hof, in dem man sein Fahrrad stellt und eventuell einen Blumentopf. In unserem Treppenhaus gibt es überall etwas, was das Auge anzieht: Graffiti und Wandmalereien sowie kleine Gimmicks.
2003 richteten wir zum ersten Mal einen Tanz-in-den-Mai aus. Was seinerzeit mit wenigen Mietern und Freunden begann, ist mittlerweile eine private Großveranstaltung, die tagsüber mit family-and-friends-BBQ startet und mit bis zu 600 tanzwütigen Freunden und Nachbarn die Nacht zum Tag macht. Am nächsten Mittag ziehen dann alle zufrieden, friedlich und beseelt nach Hause ab. Seit über 15 Jahren pflegen wir die Ausgestaltung dieses Fests. Das Fest waren wir und ein Ende nicht in Sicht.
Panta rhei – Nichts bleibt, wie es war
2019 war jedoch einiges anders. Hatte Paula all die Jahre zuvor kurz vor Ende für die letzten verbliebenen Gäste Kaffee gekocht und hatten sich alle Hausbewohner am Ende noch einmal versammelt und auf eine tolle Feierlichkeit angestoßen, so fand diesmal weder das eine statt noch ergab sich das andere. Wichtige Kameraden hatten sich im Vorfeld ein wenig und sogar komplett aus der Vorbereitung herausgezogen. Besprechungen liefen mehr im digitalen Raum als in persönlichen Begegnungen ab. Auch gab es früher etliche Vortreffen, bei denen nicht nur gemeinsam geplant wurde; währenddessen wurde gegrillt, gelacht und verrückte Ideen für die Party gesponnen. Dieses Jahr wurde vieles einfach gemacht, ohne es vorher groß zu besprechen. Das kann natürlich bedeuten, dass wir uns eingespielt haben und jeder weiß, was zu tun ist. Ich habe das jedoch anders wahrgenommen und bewertet.
Ein ungutes Gefühl stieg in mir auf. Ein Gefühl von Ungewissheit, vielleicht von Verlust, das die Frage aufgeworfen hat, wie man eine Tradition am Leben erhält? Vor allem dann, wenn es an Neuzugängen fehlt. Es gibt in unserem Fall auch keine generationsübergreifende Weitergabe. Und als einzelner neuer Mieter muss man erstmal den Mut aufbringen, sich dazuzugesellen, wenn eine Gruppe von Leuten im Hinterhof sehr vertraut miteinander umgeht. Man spürt die Gefahr aufkommen, dass sich dieses Projekt im Umbruch befindet oder schlimmer: Es könnte ein Ende finden und mit ihm eine ganze Tradition, für die man so gerne Energie aufgebracht hat.
Etwas Neues im Althergebrachten zu schaffen, etwas Eigenes, Gemeinschaftliches ins Leben zu rufen. Das war das Ziel gewesen. Wie geht es jetzt weiter? Wie viele Akteure – und damit Bewahrer – braucht unsere Tradition oder ist sie bereits dem Sterben geweiht?
Natürlich kann und sollte man Traditionen immer mal wieder einer kritischen Betrachtung unterziehen. Eine solche Revision könnte dann durchaus ergeben, dass sich eine Tradition überlebt hat und ohne jeglichen Bezug zur Gegenwart und den in ihr agierenden Menschen steht. Es gibt aber auch solche – und das sind gerade diejenigen, die man sich selber geschaffen hat –, um die es schade wäre, würden sie verschwinden. Ich freue mich jedes Jahr erneut auf Ende April, auf das Erleben unserer ganz eigenen Rituale in einer altgedienten Tradition. Und damit sie fortlebt, könnte ich beispielsweise im nächsten Jahr den Part des Kaffeekochens für die anderen übernehmen. Auch für Paula. Mit einem Rollentausch und neu vergebenen Kompetenzen lässt sich vielleicht bewahren, was ansonsten bald schon vermisst würde.