ProRead My Lips: Der Zweck heiligt die Lüge
Politiker lügen. Manche öfter, manche weniger oft. Bei manchen kommt man mit dem Zählen teilweise gar nicht hinterher, während andere gerade dank ihrer Liebe zur Wahrheit hervorstechen. Doch Lüge ist erst einmal nicht gleich Lüge. Die ein oder andere Unwahrheit lässt sich mitunter sogar vertreten.
Politische Lügen reichen vom Ausmaß her von der falsch gerundeten Dezimalstelle bis hin zum legendären Trojanischen Pferd. Doch nicht nur an ihrer Schwere kann man Lügen bewerten, sondern auch an der mit ihnen verbundenen Absicht. Manche Lügen geschehen vorsätzlich. Unter ihnen finden sich aber auch solche Falschaussagen, die einem hehren Ziel unterstellt sind, anstatt dem Eigennutz zu dienen.
Zugegeben, kein Paradebeispiel für eine wohlmeinende Lüge ist die Aussage des damaligen SED-Generalsekretärs Walter Ulbricht im Jahre 1961, dass in der DDR “niemand die Absicht [hat], eine Mauer zu errichten”. Es war Ulbricht selbst, der Chruschtschows Sowjetunion zu eben jenem Mauerbau drängte. Kaum zwei Monate später folgte selbiger. Ulbricht wiegelte dennoch Befürchtungen der ostdeutschen Bevölkerung bezüglich der Reisefreiheit ab. Somit hat er das Schicksal von 140 getöteten Republikflüchtlinge zumindest mitzuverantworten.
Doch nicht alle Lügen in der Politik geschehen absichtlich. Stattdessen können sie schlicht fahrlässig sein. Eine ungeprüfte, voreilig getroffene Bemerkung, eine falsche Kennzahl oder das Handeln aus einer unwissentlich falschen Annahme heraus zählen in diese Kategorie. Gerade politische Versprechen schlagen hier oft zu Buche, da sie vielfach kühne Aussagen für die ungewisse Zukunft treffen (müssen).
Umstritten ist etwa George Bushs Grund für sein Versprechen beim US-Präsidentschaftswahlkampf 1988, unter ihm würde es keine zusätzlichen Steuern geben. “Read my lips”, betonte er, “no new taxes”. Die Steuererhöhungen kamen trotzdem: als Kompromiss mit den Demokraten in Folge wirtschaftlicher Rezession. Bushs Fahrlässigkeit trug in großen Teilen zu seiner späteren Wahlniederlage gegen Clinton 1992 bei. Moral der Geschicht: Gib kein Versprechen, das du nicht halten kannst.
Legitime Lügen?
Kann eine Lüge unter Umständen zulässig sein? Zum einen gibt es die realpolitische Schule, die im Wesentlichen vom italienischen Renaissancediplomaten Niccolo Machiavelli begründet wurde und auf den unbedingten Erhalt des Staates als politische Einheit setzt – was mitunter Lügen nicht ausschließt. In abgeschwächter Form lebt dieser Gedanke im Utilitarismus fort: Diejenige Handlung ist die beste, die das meiste Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen produziert. Das heißt, politische Lügen können als Garant des Staats- und somit auch Gemeinwohls herhalten. Ob sie das tun, steht auf einem anderen Blatt.
Dem entgegengesetzt steht der Grundgedanke des Idealismus, maßgeblich geprägt durch den Philosophen Immanuel Kant. Nicht opportunes Nützlichkeitskalkül, sondern Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit stehen hier im Vordergrund – sei es in der Politik oder im Alltagsleben. Selbst die kleinste Notlüge ist laut Kant verwerflich, da jede Handlung einen Selbstzweck in sich tragen sollte, statt andere Menschen zu instrumentalisieren.
Gewissermaßen bestätigt unser Justizsystem Kants Thesen. Das Grundgesetz ist unumstößlich, und niemand und nichts steht über ihm. Wer dagegen handelt, wird entsprechend bestraft. Doch ganz so einfach ist es auch nicht: Ausnahmesituationen können dazu führen, dass Straftaten ungeahndet bleiben. Notwehr ist sicherlich das bekannteste Beispiel. Beim Lügen ist der Spielraum sogar noch größer: Sofern kein anderer Strafbestand durch die Lüge herbeigeführt wird (z. B. Falschaussage vor Gericht oder im Bewerbungsgespräch), ist diese nicht generell verboten. Es liegt also rechtlich betrachtet im Ermessen des Politikers selbst, eine Lüge moralisch zu vertreten oder nicht.
Dabei sind der Kreativität scheinbar keine Grenzen gesetzt. Bill Clintons Aussage, “kein sexuelles Verhältnis mit Miss Lewinsky” gehabt zu haben, ist bis heute ein vielfach diskutierter Streitpunkt, da er aufgrund der im Prozess genutzten Definition für “sexuelles Verhältnis” argumentieren konnte, dass seine passive Rolle beim Oralverkehr nicht darin inbegriffen war. Zwar schadete die Lewinsky-Affäre seinem Ansehen, aber Clinton war dennoch in der Lage, durch seine ausgeklügelte Rhetorik Selbstschutz zu üben. Ob es sich dabei nun um geschicktes Taktieren oder vorsätzliche Täuschung handelte, bleibt offen.
Was bleibt als Fazit? Um Unwahrheiten kommen wohl die wenigstens Politiker während ihrer Amtszeit herum. Angesichts ihrer andauernden Auskunftspflicht scheint die ein oder andere Ungenauigkeit geradezu unumgänglich – ungeprüfte Informationsweitergabe und voreiliges Schlüsse ziehen machen’s möglich. Lügen sind in dieser Hinsicht ein anderes Kaliber, mit welchem nur allzu scharf geschossen wird. Wie Clintons Fall zeigt, kann dieses Manöver erfolgreich und aus bestimmter Sicht sogar vertretbar (verständlich, nicht gutzuheißen!) sein. Was aber, wenn eine Lüge dem „Wohle der Gesellschaft“ dienen und Schlimmeres vermeiden soll? Solange es nicht systematisch geschieht und dem Lügenden eine moralische Gesinnung unterstellt werden kann, muss man vielleicht akzeptieren, dass Lügen Teil der politischen Kommunikation ist. Am Ende gilt es ehrlich zu sein: Niemand hat noch nie gelogen.