DebatteIst schulischer Geschichtsunterricht Schnee von gestern?
Im deutschsprachigen Raum gibt es das Unterrichtsfach Geschichte seit mehreren Hundert Jahren. Seitdem hat sich an den Schulen viel getan — und gleichzeitig blieb doch vieles beim Alten.
Wir schreiben das Jahr 64 nach Christus. In einer schwülen Julinacht bricht im antiken Rom ein gewaltiger Brand aus, dessen Flammen große Teile der Stadt verschlingen. Der Brandstifter: kein geringerer als Kaiser Nero, der das Feuer in aller Ruhe aus seinem Palast überblickt und dabei auf seiner Leier spielt.
Wir springen fast zwei Jahrtausende weiter, ins Deutsche Reich 1933. Im Jahr seines Amtsantritts beginnt Reichskanzler Adolf Hitler mit dem Bau der Autobahn — sein erstes großes Prestigeprojekt, auf das auch heute noch verwiesen wird. Doch was haben diese zwei Begebenheiten gemeinsam?
Beides sind vermeintlich historische Ereignisse, die sich so nie zugetragen haben. Nero hat den römischen Großbrand weder selbst gelegt, noch befand er sich während seines Ausbruchs überhaupt in der Hauptstadt. Auch die Reichsautobahn ist nicht etwa ein Verdienst Hitlers. Sie wurde bereits seit 1931 gebaut und ursprünglich sogar von der NSDAP blockiert, bis Hitler sie als Propagandainstrument für sich entdeckte. Trotzdem, klagen mehr und mehr Menschen, blieben beide Unwahrheiten durch stetiges Einbläuen in unserer kollektiven Wahrnehmung bestehen. Mit dafür verantwortlich sei nicht zuletzt der Geschichtsunterricht.
Jede Geschichte braucht ihre Erzählung
Blickt man ein wenig tiefer in die Geschichte des Geschichtsunterrichts, stellt sich heraus, dass solche Beispiele nur die Spitze des Eisbergs bilden. Während Ungenauigkeiten im Lehrplan grundsätzlich beseitigt werden könnten, scheint eine objektive Darstellung historischer Ereignisse möglicherweise nicht das Ziel zu sein.
Den Geschichtsunterricht als eigenständiges Fach gibt es hierzulande seit dem 18. Jahrhundert. Dass damit die Interessen der jeweils herrschenden Autoritäten verbunden waren, darf man getrost als gegeben voraussetzen. Was aber bedeutet das für eine unabhängige Betrachtung der Vergangenheit? Frühe Gymnasien orientierten sich an den geistlichen Lateinschulen des Mittelalters und bereiteten die Bildungselite durch einen Fokus auf europäische Sprachen und Kultur vor. Und somit auch auf das Studium hoher Ämter in Politik und Kirche. Die dem Großteil der Schüler vorbehaltenen Volksschulen legten hingegen besonderen Wert auf preußische Tugenden und eine Geschichtsvermittlung, welche damals als besonders identitätsstiftend galten.
Hier von einer überwundenen Indoktrinierung zu sprechen, weisen viele kritisch zurück. So war der Geschichtsunterricht in der DDR bis zur Wende, gemäß geltender Staatsräson, ausschließlich marxistisch-leninistisch geprägt. Ebenso spielt die Vermittlung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in den Lehrplänen des wiedervereinten Deutschlands eine wichtige Rolle. Geschichtsunterricht war also von jeher zu einem bestimmten Grade staatstragend und politisch zumindest opportun.
Ein langsamer Wandel – am Puls der Zeit?
Die Konsequenz dessen könnte sein, dass der Geschichtslehrplan nie vollends gleich bleiben kann. Zum einen wird Geschichte fortwährend geschrieben. Und damit, sollte man annehmen, ändert sich auch unsere Wahrnehmung und Einordung von Gegenwart und Vergangenheit. Die didaktische Aufarbeitung des Dritten Reichs und des Holocaust in unseren Schulen heute ist nicht mehr wegzudenken, während diese Themen in der BRD bis in die 1960er Jahre kaum beleuchtet wurden. Aus Tabuisierung wurde allmählich Vergangenheitsaufarbeitung, im besten Fall Vergangenheitsbewältigung. In der DDR wiederum spielte die Behandlung des Faschismus von Anfang an eine fundamentale Rolle, zählte dessen scheinbar vollständige Überwindung doch zu einem der größten ideologischen Erfolge des Ostblocks.
Diese Wandelbarkeit wird seit Längerem als Aufforderung verstanden, gesellschaftliche Erneuerung ebenso am schulischen Geschichtsunterricht erkennbar zu machen. Beim Thema Kolonialismus wird Deutschlands Rolle als Kolonialmacht seit einigen Jahren zunehmend kritisch betrachtet. Dazu beigetragen hat der Umstand, dass die Bundesregierung seit 2015 den Völkermord an den Herero und Nama durch das Deutsche Reich als solchen anerkennt.
Die richtige Balance finden
Die „historisch betrachtet“-Formel will Geschichte auf den Punkt bringen (kritischer formuliert: auf einen Blickpunkt reduzieren), nur geht das für diverse Gruppierung mittlerweile am sogenannten Puls der Zeit vorbei. Was aber gilt, wenn nicht eindeutig ist, ob Geschehenes historisch relevant ist und in welcher Weise es pädagogisch zu betrachten sein sollte? Darüber, so viel ist sicher, herrscht weiterhin Uneinigkeit. Während einerseits eine stumpfe Aneinanderreihung bedeutsamer Ereignisse gemahnt wird, gilt anderen die bisher erreichte Anpassungsfähigkeit in der Wissensvermittlung bereits als löblich. Das Gleichgewicht zwischen innovativ und bewährt scheint also noch nicht gefunden.