Europa spaltet die Sozialdemokratie
Europa spaltet die französische Linke, meint der Soziologe Marc Lazar im Interview mit Europabloggerin Tabea Schroer. Er empfielt den Regierungschefs, die bestehende pro-europäische Basis zu nutzen.
Am Mittwoch sprachen Angela Merkel und François Hollande in Straßburg über den Umgang mit Geflüchteten auf europäischer Ebene. Sie warben dafür, nicht in nationalstaatliches Denken zu verfallen. Marine Le Pen vom Front National (FN) warf Hollande vor, Merkels „Vize-Kanzler“ zu sein und keine eigene Position zu haben. Was ist dran an dem Vorwurf?
Zunächst müssen wir uns Hollandes Reaktion anschauen: Er war sehr verärgert und verteidigte die französische Position. In Bezug auf Frankeichs Position in Europa ist das mehr oder weniger auch eine Realität. Sie hat sich verändert. Früher gab es sozusagen eine Aufteilung der Aktivitäten zwischen einem wirtschaftlich starken Deutschland und einem Frankreich, welches das wichtigste politische Land war. Offensichtlich ist es jetzt anders, weil es jetzt neue Staaten in der EU gibt. Frankreich hat seine alte Rolle nicht mehr. Gleichzeitig gibt es eine große wirtschaftliche und vielleicht auch kulturelle Krise in Frankreich. Die Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ist wichtig, aber nicht mehr so ausgeglichen wie früher.
Wie beeinflusst die Diskussion um Geflüchtete die Parti Socialiste (PS) in Frankreich?
Die Frage der Migration bringt die PS in Schwierigkeiten. Einerseits versucht sie, einige willkommen zu heißen, aber auf einem sehr niedrigen Niveau. Andererseits hat die PS Angst vor dem FN. Der hat eine defensive Einstellung den Migranten gegenüber. Das ist ein wirkliches Problem, denn viele Umfragen weisen darauf hin, dass die große Mehrheit der Franzosen neue Grenzen will und den Migranten gegenüber sehr ablehnend eingestellt ist. Also, die Diskussion hat einen Einfluss auf die PS, weil sie die große derzeitige Schwachstelle der PS zeigt.
Positioniert die PS sich denn zu Migration? Denn nun wäre doch der Zeitpunkt, wo sie sich dazu positionieren müsste, auch wenn sie Angst vor dem FN hat.
Ja, aber die Position ist eine sehr bescheidene. Sie sagen, „ok, wir werden 24.000 Migranten willkommen heißen. Wir werden sie territorial aufteilen und versuchen, zwischen den Migranten zu unterscheiden, die politisches Asyl in Frankreich möchten, und denen, die aus ökonomischen Gründen herkommen“. Sie tun also etwas. Aber zu Beginn wollte Hollande nicht darüber sprechen. Es hat auch mit Merkels Position zu tun, dass Frankreichs Position sich da verändert hat.
Ist die Ablehnung von Migranten eher eine Frage der Identität und Kultur als eine ökonomische Frage?
Beides. Es gibt die ökonomische Komponente: Viele Menschen sind arbeitslos. Es herrscht bei manchen die Angst, dass sie etwas verlieren werden. Das ist ein großes politisches Thema für den FN. Wenn man sich aber die Geschichte Frankreichs anschaut, hatten wir schon viel wichtigere Migrationsströme. Zum Beispiel in den 1970ern, als die Boat People aus Asien kamen. Damals kamen viele Vietnamesen wegen der Beziehungen zwischen Frankreich und Vietnam aus der Kolonialzeit. Aber jetzt wird Migration als Problem betrachtet und die Franzosen stellen sich die große Frage: „Was heißt es, Franzose zu sein?“
Welche Antworten gibt es auf diese Frage?
Die Reaktion des FN ist: „Wir sind Franzosen, wir wurden in Frankreich geboren.“ Es gibt da diesen französischen Ausdruck français de souche. Es bedeutet pure, französische Herkunft, mit einer Blutsdimension. Die anderen sagen: „Nein, wir sind Franzosen, weil wir schon immer vermischt waren mit verschiedenen Menschen, die aus verschiedenen Ländern gekommen sind.“ Es herrscht gerade eine Debatte und die PS ist in dieser Diskussion sehr schüchtern, weil sie Angst hat.
Welche anderen Herausforderungen gibt es derzeit für die PS?
Oh, sehr viele. Die wichtigste ist offensichtlich die ökonomische Situation, also die Arbeitsmarktsituation. Bislang haben die Reformen seitens der Regierung keine neuen Arbeitsplätze geschaffen. Die zweite Priorität der PS liegt auf der Frage nach Europa. Für die PS ist das ausschlaggebend, weil ein Großteil der PS die europäische Konstruktion befürwortet. Aber es gibt eine wichtige Minderheit, die jetzt mehr als früher die EU kritisiert. Generell steht die Sozialdemokratie vor der Frage, zu erklären, welches Europa sie will. Will sie ein Europa mit einer Austeritätspolitik, mit dem einzigen Ziel, die öffentliche Verschuldung zu vermindern? Oder ist sie in der Lage, etwas Anderes zu kreieren? Kann sie eine Identifikation mit Europa schaffen, eine Zukunft für Europa, was Wirtschaft, Politik und die Demokratisierung von Europa betrifft. Der dritte Punkt besteht im Versuch, die Beziehung zu unteren sozialen Klassen wiederherzustellen, die aus Arbeitern bestehen. Das ist nicht nur ein Problem der PS in Frankreich, sondern ein Problem aller linken Parteien, auch der SPD. Die PS hat kein Narrativ mehr. Sie sagt nur, sie müsse das Budget berücksichtigen, ein bisschen Sozialpolitik machen, aber nicht zu viel. Es fehlt an einer Erklärung, wie die Zukunft aussehen könnte.
Welche Konzepte gibt es derzeit, um Lösungen für diese Herausforderungen zu finden?
Die PS betreffend gibt es derzeit eine große Stille. Momentan ist sie nicht in der Lage, etwas wieder aufzubauen. Das einzige, was die PS gerade für die Regionalwahlen aufzubauen versucht, ist eine Art Referendum nächste Woche: „Wir müssen uns in der ganzen Linken zusammentun“. Gut, aber wofür? Das ist der Punkt.
Europa ist also die Frage, die spaltet.
Ja, sie spaltet die Linke, die radikale Linke, die Rechte, aber nicht die politisch weit rechts Stehenden. Europa ist derzeit ein Element, das tiefe politische Spaltungen in allen politischen Lagern bringt. Ich weiß nicht, wie das in Zukunft wird. Es könnte eine große politische Rekomposition geben.
Haben Sie trotzdem eine Prognose für die EU?
Es gibt eine große Krise in der EU. Wenn man sich die Umfragen anschaut, möchte die Mehrheit der Europäer aber gleichzeitig in der Eurozone bleiben. Zumindest die Mehrheit derer, die schon drin sind. Sie verstehen die Eurozone auch als Fortschritt. Es gibt also eine Basis. Wenn die Regierungschefs clever wären, würde sie diese Basis nutzen. Es ist auch ein Problem, dass es auf europäischer Ebene niemanden gibt, der Europa verkörpert. Es gibt keinen Mann und keine Frau, die eine Art Referenz darstellt. Das ist momentan eine wirkliche Schwäche, unter vielen anderen. Für den Moment bin ich sehr pessimistisch, was die Zukunft Europas angeht. Das tut mir leid.