Demokratie schützen
In Taiwan wird im Januar gewählt. In den vergangenen Jahren hat die Regierungspartei vor allem eine Annäherungspolitik an China betrieben. Viele junge Taiwaner gehen dagegen auf die Straße. Sie wollen ein freies Land und mehr soziale Gerechtigkeit.
Als seine Freunde auf der Straße protestierten, steckte Chen eigentlich gerade in seinen Prüfungsvorbereitungen. „Doch mein Lehrer erlaubte mir zu fehlen“, sagt er. So besetzte auch der 18-Jährige im Herbst mit 700 anderen Schülern das Bildungsministerium in Taipei.
Der Protest der Schüler ist Teil einer Serie von Demonstrationen in Taiwan. Das Land vor Chinas Küste ist seit den 1990er Jahren eine Demokratie. Im Schatten des mächtigen Nachbarstaats hat sich eine lebhafte Zivilgesellschaft entwickelt. Doch noch immer wird der Inselstaat nur von 21 Staaten und dem Vatikan anerkannt. Seine Wirtschaft stagniert. Auch wenige Wochen vor den Wahlen im Januar kämpfen viele junge Taiwaner gegen die wachsende Abhängigkeit von China und fehlende berufliche Perspektiven.
Auslöser für die Proteste von Chen und seinen Freunden waren Pläne für die Überarbeitung des taiwanesischen Curriculums für weiterführende Schulen. „Ein Problem dabei ist die Darstellung der Geschichte Chinas und Taiwans“, sagt Chen. „Unter anderem werden einige Ereignisse in der chinesischen Geschichte verharmlosend dargestellt“, kritisiert er.
Chinesisch-taiwanesische Geschichte
Die Republik China, wie Taiwan offiziell heißt, wurde 1912 nach dem Sturz des chinesischen Kaisers in Festlandchina ausgerufen. Provisorischer Präsident wurde damals Sun Yat-sen von der chinesischen Nationalpartei Kuomintang. Durch die politische Zersplitterung nach dem Zerfall des Kaiserreichs konnte sich die Republik aber nie vollständig durchsetzen. Bis 1949 herrschte in China Bürgerkrieg. Die zwei stärksten Kräfte, die Kuomintang und die Kommunistische Partei Chinas, kämpften zwischenzeitlich gemeinsam gegen Japan, dann aber wieder gegeneinander. Erst 1949 setzte sich die Kommunistische Partei durch und rief die Volksrepublik China aus.
Die Anhänger der Kuomintang flohen und ließen sich auf der China vorgelagerten Insel Taiwan nieder, die rund 50 Jahre von den Japanern besetzt gewesen und nach dem Krieg zurückgegeben worden war. Aus dem Plan, die Insel als Rückzugsort zu nutzen und das Festland bald zurückzuerobern, wurde nichts. Die Herrschaft der Kommunistischen Partei festigte sich. Die Volksrepublik forderte den alleinigen Vertretungsanspruch für ganz China, der mit dem wirtschaftlichen Aufstieg des Landes auch von immer mehr anderen Ländern akzeptiert wurde.
Zudem führte die Politik der Volksrepublik zu einer Isolation Taiwans. Mit der Ein-China-Politik fordert China noch heute von allen Staaten, mit denen das Land diplomatische Beziehungen pflegt, die Beilegung offizieller Beziehungen mit Taiwan. Zudem hat die VR China auch den Sitz für die Vertretung ganz Chinas bei den Vereinten Nationen inne. Taiwan hat bis heute keinen Sitz in der Vollversammlung.
Die meisten Taiwaner unterstützen den Status Quo
Die Beziehung zwischen den Ländern ist dementsprechend schwierig. Aktuell orientieren sich beide Staaten am Konsensus von 1992. Dieser umfasst, dass sie jeweils das Ein-China-Prinzip akzeptieren, das „eine China“ aber unterschiedlich definieren. In der Praxis bedeutet das: Taiwan ist ein funktionierender Staat. Taiwaner zahlen Steuern, haben eigene Pässe und eine eigene Währung. Im Land merkt man von der komplizierten Lage so gut wie nichts. Aber China beansprucht die Insel, die so groß wie Baden-Württemberg ist, immer noch für sich und bezeichnet sie offiziell als eigene Provinz. Würde Taiwan sich unabhängig erklären, droht die Volksrepublik nach wie vor mit einem gewaltsamen Eingriff.
Innerhalb der Politik Taiwans spiegelt sich dieser Konflikt zwischen der Kuomintang und der Democratic Progressive Party wider. Der Kuomintang wird eine größere Nähe zu China nachgesagt. In den vergangenen acht Jahren hat sie vor allem Annäherungspolitik an China betrieben. Sie sympathisiert eher mit der Idee einer Wiedervereinigung. Die Democratic Progressive Party ist tendenziell eher für die Unabhängigkeit Taiwans, beide Parteien sprechen sich aber für den Status Quo aus. Sie definieren diesen zwar mitunter unterschiedlich, repräsentieren damit aber grundsätzlich die Meinung vieler Taiwaner: Lieber alles so lassen und keinen gewaltsamen Konflikt riskieren.
Taiwan ist eine Mischung aus vielen Kulturen
Neben den historischen und politischen Fragen zwischen den Ländern ging es Chen und seinen Freunden bei ihrem Protest auch um die Darstellung der taiwanesischen Kultur im neuen Curriculum. Die nach Taiwan geflohenen Chinesen leben dort mittlerweile seit mehreren Generationen. Nur noch die Generation der Großeltern erinnert sich an die Zeit auf dem Festland. Junge Menschen wie Chen sind in einer offenen und demokratischen Gesellschaft aufgewachsen und sehen dies auch als Teil ihrer Identität – die sie als taiwanesisch bezeichnen, nicht mehr als chinesisch.
Zudem legen sie auch Wert auf die verschiedenen Einflüsse der vergangenen Jahrhunderte: „Taiwan ist eine Mischung aus vielen Kulturen. Es gibt Einflüsse aus der niederländischen, japanischen und chinesischen Kultur“, sagt die Schülerin Pinzhen, die mit Chen gemeinsam protestiert. „Unsere Regierung wollte aber nur die chinesische Kultur hervorheben.“
Dem Protest der Schüler war die sogenannte Sonnenblumenbewegung im März vorangegangen, bei der Studenten das taiwanesische Parlamentsgebäude besetzten. Hunderttausende nahmen darüber hinaus an den Demonstrationen vor dem Gebäude teil. Mit dabei war auch die Studentin Pinyu aus Taipei. „Es gab viele Gründe für unseren Protest. Der Hauptgrund war das Dienstleistungsabkommen mit China, das zu dem Zeitpunkt verhandelt wurde“, sagt Pinyu. Das Abkommen ist Teil der Annäherungspolitik der Regierungspartei Kuomintang mit China in den vergangenen Jahren. Viele Menschen in Taiwan glauben, es bedrohe Arbeitsplätze, erhöhe die Abhängigkeit und den Einfluss Pekings im Land.
Große Wohlstandslücke zwischen den Generationen
Pinyu ist schon länger Mitglied einer studentischen Bewegung, die sich mit sozialen Problemen in Taiwan auseinandersetzt. Diese seien groß für die jungen Menschen in Taiwan, sagt sie. „Im Januar werden bei den Wahlen deshalb auch soziale Fragen im Fokus stehen“, sagt der Direktor des Institute of Political Science at Academica Sinica in Taipei, Lin Jih-wen. „Die Globalisierung hat eine Wohlstandslücke zwischen die junge und die ältere Generation gerissen.“ Dieses Jahr werde Taiwans Wirtschaftswachstum wahrscheinlich bei nicht einmal einem Prozent liegen. In den vergangenen Jahren waren es häufig bis zu sieben oder acht Prozent.
Das Einstiegsgehalt liegt in Taiwan bei gerade einmal 6.400 Euro pro Jahr. Selbst eine Immobilie außerhalb Taipeis kostet laut Jih-wen bereits rund 180.000 Euro. Da eine Wohnung für viele junge Menschen heute noch eine wichtige Voraussetzung für eine Hochzeit ist, heiraten sie spät und kriegen nur wenige Kinder. So lag die Geburtenrate 2014 bei nur 0,9 Prozent.
Die Proteste gegen die neuen Schulbücher oder das Dienstleistungsabkommen seien auch Ausdruck der grundsätzlichen Unzufriedenheit der jungen Menschen, sagt Lin Jih-wen. „Sie haben das Gefühl, dass die aktuelle Regierung ihre Probleme nicht sieht. Dabei geht es ihnen auch um die täglichen Herausforderungen.“
Zudem sehen viele Taiwaner die zunehmende Nähe zu China kritisch. Gerade einmal 20 Jahre ist es her, dass in Taiwan die ersten demokratischen Wahlen stattgefunden haben.