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„Der EU die Schuld zu geben, ist einfach“

Von Hripsime Zohrabyan / 24. Mai 2019
picture alliance / imageBROKER | H.-D. Falkenstein

Anstatt immer nur über unsere Nachbarn zu reden, haben wir uns entschlossen, sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Sagwas-Autorin Hripsime Zohrabyan hat Bürger_innen in der Tschechischen Republik zu ihrer Meinung über Europa, die Europäische Union und die anstehenden Wahlen zum EU-Parlament befragt.

In der Region um Hradec Králové besuchte sie drei Städte und sprach mit mehreren, zufällig ausgesuchten Passant_innen. Dabei wurden vor allem Fragen wie diese gestellt: Was ist das Erste, das Ihnen zum Wort „Europa“ einfällt? Was empfinden Sie gegenüber der Europäischen Union? Werden Sie an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen?

DAVID, 35

Anderen Kulturen zu begegnen, finde ich bereichernd für die Seele

Reisen gehört zu meinem Job. Und es ist mein Hobby. Anderen Kulturen zu begegnen hilft mir, zu erkennen, wie unterschiedlich wir sind, obwohl unser Leben oft nach sehr ähnlichen Prinzipien verläuft.

Europa bedeutet viele verschiedene Dinge für mich. Einheit genauso wie Vielfalt, die Nähe zwischen Nachbarländern, unsere Geschichte, unsere Sprachen und so weiter. Von Politik verstehe ich nichts. Für mich ist Reisen das Wichtigste. Ich lebe im Herzen Europas, also komme ich leicht und in kurzer Zeit mit dem Zug, Bus oder Flugzeug in ein anderes Land. Es macht mir Spaß, andere Traditionen kennenzulernen, neues Essen zu probieren, kulturelle Unterschiede zu erleben. Das Reisen erweitert meinen Horizont. Es ermöglicht mir, unterschiedliche Gewohnheiten und Reaktionsweisen zu sehen, im Kleinen wie im Großen. Gleichzeitig macht es mir bewusst, wie glücklich ich zu Hause bin. Ich komme immer wieder gern zurück zu meiner Familie und jedes Mal bringe ich im Kopf und im Herzen etwas Neues mit.

DENISA, 32

Europa ist mein Zuhause

Als Mutter zweier Kinder habe ich nicht die Zeit, immer zu verfolgen, was hier in der Politik und im Weltgeschehen vor sich geht. Das Meiste erfahre ich von meinem Mann und meinen Freunden. Ob ich an den Wahlen zum Europaparlament teilnehme, hängt davon ab, ob mein Mann sich entscheidet, jemandem seine Stimme zu geben.

Das Erste, was mir zum Thema EU einfällt, ist der Euro. Die Menschen in meinem Umfeld sagen, dass es sich für uns nicht lohnt, den Euro als Währung zu haben. Ich fürchte dann, schlechter bezahlt zu werden. Mir wäre also lieber, wenn wir in der Tschechischen Republik den Euro nicht hätten. Andererseits ist es toll, in andere europäische Länder reisen zu können, ohne Geld wechseln zu müssen. Es ist paradox, oder? Ich finde Europa aber großartig, so viele Länder auf so kleinem Raum. Mein Zuhause. Wenn jemand nicht weiß, wo die Tschechische Republik ist, dann sage ich [stolz]: „Ich komme aus Europa.“ Aber ich fühle mich als Tschechin.

MAREK, 29

Die EU wird es nicht mehr lange geben

Ich bin kein Fan der Europäischen Union. Mir gibt sie ein Gefühl der Unsicherheit. Die Idee hinter der Union ist nicht schlecht, aber die Ausführung ist es. Langfristig glaube ich, dass es kein Projekt von Dauer ist.

Um ehrlich zu sein, sehe ich die EU als eine Diktatur, die uns sagt, was wir zu tun und zu lassen haben. Irgendwie ist das sogar nachvollziehbar. Wie sonst kann man eine Organisation führen, in der jedes Mitglied seine eigenen Interessen hat, die der Idee einer Einheit manchmal entgegenstehen? Das führt zu Befehlshaberei und Unterdrückung nationaler Souveränität. Schaut euch als Beispiel nur mal den Euro an! Ich sehe also keinen Sinn darin, an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilzunehmen, weil ich noch nie von jemandem aus der Tschechischen Republik gehört habe, der dort unsere Interessen verteidigt hätte. In Brüssel habe ich zu viele Beamte gesehen, die nichts tun. Meine Meinung klingt vielleicht streng, aber um auch etwas Positives zu sagen, würde ich als Ökologe die Abfallvermeidung, das Recycling und das Deponieverbot nennen.

VLASTA, 57

Ich habe Angst vor Einwanderung

Ich wohne in einer Stadt, in der es ein Flüchtlingslager gibt. Zuerst war ich dagegen, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Ich kann nicht sagen, dass ich mich unsicherer fühle, nur manchmal ist mir mulmig, wenn ich an jemandem von dort vorbeigehe.

Alle sprechen über Migration; die Medien sind voll von Nachrichten über Flüchtlinge. Die Europäische Union will sie aufnehmen und das gefällt mir nicht. Ich bin Patriotin. Ich liebe Europa und glaube, dass wir in Gefahr sind. Ich habe Angst vor Fremden und vor Krankheiten. Meine Kinder und Enkel leben hier und ich würde sie gerne beschützen. Wenn ich tiefer darüber nachdenke, fühle ich mich nicht akut bedroht, sondern habe eher eine allgemeine Angst. Ich bin eigentlich nicht generell gegen Migration. Mir gefällt nur gar nicht, dass sie hierherkommen, nicht arbeiten wollen und nur unser Sozialsystem ausnutzen. Klar würde ich eine Ausländerin einstellen, aber zuerst müsste ich sehen, wie sie arbeitet. Als Kosmetikerin würde ich darauf achten, wie sie putzt, ob sie selbst einen sauberen Eindruck macht und ob sie auf Hygiene achtet.

PETR, 47

Die Sicherheit in Europa steht in Frage

Ich sehe die Europäische Union als etwas Gutes. Die Grenzen sind offen, wodurch wir einfach und problemlos reisen können. Und dann sind da natürlich die EU-Mittel.

Als Bürgermeister freue ich mich, dass wir so vieles hier instand setzen können: die Kanalisation, Klärwerke, Straßen. Wir haben Zugang zu Geldern, die unser eigener Staat uns nicht geben könnte. Unsere Region und das ganze Land entwickelt sich, das ist toll! Es ist gut, dass Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten, miteinander reden und ihre Praxisbeispiele austauschen. Es ist aber auch sehr einfach, der EU für so gut wie alles die Schuld zu geben, was den Menschen nicht gefällt. Sie ist eine dankbare Zielscheibe und es sind sehr viele Falschmeldungen im Umlauf. Nehmen Sie die Migration. In unserer Region fehlen Arbeitskräfte im Automobilsektor und die Einwanderung hilft uns, den Bedarf zu decken. Andererseits hat Europa eine offene Flanke gegenüber terroristischen Anschlägen, was mir die größte Angst macht. Deshalb fahre ich gern in die östlichen Länder in Urlaub, etwa die Slowakei, Ungarn oder Russland. Ich fühle mich da sicherer. Aber es liegt auch daran, dass ich die westlichen Länder schon kurz nach der Samtenen Revolution 1989 besucht habe.

BOHUMIL, 82 (wollte nicht fotografiert werden)

Es ist gut, Teil der Europäischen Union zu sein

Ich liebe Europa. Ich bin dankbar, dass ich hier lebe; hier ist es wunderbar.

In meinem Alter habe ich viel gesehen und gelernt, fast ganz Europa bereist, dazu einige Teile Amerikas und Asiens. Mir gefällt an Europa, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein sicheres und stabiles Umfeld entwickelt hat, das die EU mitgeschaffen hat und miterhält. Deshalb glaube ich, dass es gut ist, dass wir die Europäische Union haben. Natürlich hat sie auch Schattenseiten, aber gibt es etwas, was keine hat? Wenn es eine Volksabstimmung über einen “Tschexit“ gäbe, würde ich gegen einen EU-Austritt stimmen. Wenn wir Dinge an der EU verändern wollen, dann sollten wir ein Teil von ihr sein. Wie sollen wir von außen die Diskussionen beeinflussen, wohin Europa sich bewegt? Deshalb nehme ich auch an den Wahlen zum Europäischen Parlament teil und werde für EU-freundliche Kandidaten stimmen.

Alle Fotos: Hripsime Zohrabyan

Übersetzung des englischen Originaltextes: Bianca Walther

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