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Der neue Wohlstand

Von Barbara Engels / 5. Oktober 2022
picture alliance/dpa | Rolf Vennenbernd

Haben, haben, haben: Das war einmal. Statt Gegenstände dauerhaft zu besitzen, wollen wir sie heutzutage vor allem nutzen. Doch das Eigentum hat deswegen noch lange nicht ausgedient.

Wir schauen Filme auf Netflix. Wir speichern unsere Fotos in der Microsoft-Cloud. Wir übernachten in Airbnb-Wohnungen. Wir fahren mit dem Lime-E-Scooter zum Büro – und nach Feierabend mit dem Nextbike wieder zurück. Wir leihen, leasen, sharen, teilen was das Zeug hält, tagaus und tagein – und nutzen dabei weit mehr Anbieter als die genannten Unternehmen.

Das macht uns zu Akteurinnen und Akteuren der Sharing Economy, der Wirtschaft des Teilens und Tauschens. Das ist eine Form des kollaborativen Konsums, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit der Verbreitung des Internets entstanden ist. Sicherlich, Bibliotheken, Videotheken und Mietwagen gibt es schon sehr viel länger, aber erst die globale Vernetzung von Menschen und Gegenständen über digitale Plattformen hat die Sharing Economy zu dem gemacht, was sie heute ist: millionenfach genutzt, omnipräsent, international und gleichzeitig lokal.

Fast 100 Prozent der deutschen Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern verfügen 2022 nach Angaben des Bundesverbandes Carsharing über Carsharing-Angebote. Sechs Millionen Airbnb-Anzeigen bieten in 220 Ländern der Welt temporäre Unterkünfte an. Allein in Deutschland gibt es inzwischen rund 160.000 Unterkünfte, die darüber buchbar sind – 2017 waren es noch 94.700. Nachbarschaftsplattformen wie nebenan.de boomen und auch in lokalen Facebook-Gruppen wird immer häufiger getauscht und geliehen.

Wohlstand neu definiert

Die Sharing Economy legt den Begriff von Wohlstand neu aus. Wohlstand bedeutet immer seltener „mehr Eigentum“, stattdessen immer häufiger „mehr Zugang“. Wir sind nicht reich, wenn wir ein Auto haben, eine Bohrmaschine besitzen oder ein Ferienhaus unser nennen. Wir sind reich, wenn wir Zugang dazu haben, diese also nutzen können. Die Fahrt, das Bohrlch in der Wand, die Übernachtung sind wichtig, nicht die Dinge als solche: Nutzen statt Eigentum, so das Motto.

Insofern zieht die Sharing Economy eine immense Erweiterung unserer Konsummöglichkeiten nach sich. Im Umkehrschluss ist nicht mehr derjenige arm, der nichts hat, sondern derjenige, der auf nichts Zugriff hat. Längst nutzen wir viele Produkte und Dienstleistungen im Abo, statt sie uns „für immer“ anzuschaffen. Temporärer Zugriff bedeutet Ungebundenheit und Unabhängigkeit, Besitz verpflichtet nicht so sehr wie Eigentum. Wer was braucht, leiht sich was. Wer nichts braucht, muss sich um (fast) nichts kümmern.

Eigentum bleibt attraktiv

Der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin hat diesen Trend bereits 2000 in seinem Buch „Access – Das Verschwinden des Eigentums“ vorhergesehen. Er war schon damals der Meinung, dass Eigentum massiv an Bedeutung verliere. Nichtsdestotrotz existiert es aber weiterhin: Denn ohne Eigentum kann auch nichts geteilt werden. Selbst wenn es Menschen gibt, die gerne minimalistisch leben und ihr Eigentum freiwillig reduzieren – es gibt auch die Gegenbewegung, für die die Anhäufung von Eigentum immer noch ein wichtiges Lebensziel ist. Viele Menschen um die 30 erachten es als wichtigen Entwicklungsschritt, ein Haus oder zumindest eine Wohnung zu kaufen. Horrende Zinsen, Kreditzahlungen bis ans Lebensende? Egal, denn irgendwie beruhigt Eigentum doch auch.

Das Gebundensein an Eigentum ist für einige Menschen vorteilhafter als die Flexibilität des Leihkonsums. Zwar sind gute Verbindungen in der Regel leichter zu erwerben als Eigentum, aber auch sie müssen geplant und verwaltet werden. Es muss klar sein, wann was gebraucht wird und wie der Zugang zu diesem Mittel gesichert werden kann. Diese Art von Abhängigkeit kann durchaus Angst machen, vor allem, wenn man jahrzehntelang dem Grundsatz „wer nichts hat, ist auch nichts“ aufgesessen ist. Womöglich ist genau dann, wenn ich den E-Scooter dringend brauche, keiner in meiner Nähe verfügbar? Besser also, einen kaufen… Wer ländlich wohnt, hat ohnehin deutlich weniger Sharing-Angebote zur Verfügung als die Städterinnen und Städter.

Grenzen der Sharing Economy

Die Sharing Economy mag verändern, wie und was wir konsumieren, Allheilmittel ist sie nicht. Anders als von vielen erhofft ist Teilen nicht automatisch ökologisch sinnvoll. Unter einigen Vorzeichen kann gemeinschaftliches Nutzen von Gütern zu Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit beitragen. Denkbar ist aber auch, dass es den Konsum und schädliche Emissionen sogar noch erhöht.

Kaum jemand hat sein Auto wegen der Möglichkeit zum Carsharing abgeschafft, stattdessen wird Carsharing zusätzlich zum eigenen Auto genutzt. Die Verknappung von Wohnraum ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass Wohnungen über Plattformen als temporäre Unterkünfte angeboten und damit „zweckentfremdet“ werden.

Immerhin denken wir immer öfter um: Muss ich das kaufen oder kann ich es auch leihen? Bei der Kleiderei, einem Kleider-Verleih-Geschäft mit Ablegern in Köln, Berlin und Freiburg, geht beides: sich vier Kleidungsstücke gleichzeitig leihen für einen festen Monatsbeitrag – oder die Teile direkt kaufen. Dem Kleid jedenfalls ist das egal.

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