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„Dieses Format des Dialogs darf nicht unterschätzt werden“

Von Christa Roth / 9. Mai 2019
Credits: Jacob&Alex, 2018 | Progressives Zentrum;

Europa – das ist nicht nur Brüssel oder Straßburg, sondern genauso Pirmasens, Herne und Prenzlau. Das hat Paulina Fröhlich auf ihren Reisen durch Deutschland gelernt. Und wie effektiv zuhören sein kann.

Paulina Fröhlich wirkt zu jeder Zeit voller Tatendrang. Als Projektmanagerin des Progressiven Zentrum in Berlin muss sie das vielleicht auch. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie ihrer Arbeit einfach gerne nachgeht. 2018 führte sie an besondere Orte quer durch Deutschland. Mit „Europa hört – eine Dialogreise“ haben sie und ihr Team den Begriff „Bürgernähe“ neu definiert. Für mehr Europa.

Sagwas: Hof, Bad Muskau, Oerbke, Herne – du und deine Mitstreiterinnen haben eher unbekanntere Adressen angesteuert. Bei der Ergebnisvorstellung eures Projekts im Februar diesen Jahres hat euer Gast, Staatsminister Michael Roth (SPD), dazu gesagt, ihr wärt dorthin gegangen, „wo es stinkt“. Wie stehst du zu dieser Einschätzung?

Paulina Fröhlich: Ich schätze Michael Roth sehr. Aber jenes Zitat, ursprünglich von Sigmar Gabriel, ist unglücklich. Gemeint ist ja, dass ein Verlassen der eigenen Wohlfühlblase hin zu Unbekanntem wichtig und richtig ist. Da stimme ich ihm voll und ganz zu. Dennoch ist „stinkt“ kein Wort, das die Orte beschreibt, die wir besucht haben. Außerdem saßen Menschen im Publikum, die an den Bürgerdialogen teilgenommen hatten. Man hätte also auch anders formulieren können, was gemeint war.

„Europa hört“ besucht zehn verschiedene Orte (Foto: Jacob&Alex, 2018)

Eure Route wirkt auf den ersten Blick recht wild, war aber sehr durchdacht. Wie erklärt sich, warum ihr wo Halt gemacht habt?

Wir hatten Zeit und Logistik für zehn Stationen und wollten zehn Bundesländer besuchen. Hinzu kam, dass wir zu Orten fahren wollten, die Teil der europäischen Grenzregion oder von Strukturschwäche geprägt sind und etwa eine hohe Abwanderung verzeichnen. Aber auch wer EU-Fördermittelempfänger ist und eine EU-Partnerstadt hat, hat uns als Kriterium interessiert, um genauer hinzusehen.

Angeregte Diskussionen in niedersächsischen Walsrode (Foto: Jacob&Alex, 2018)

Das klingt nach enorm viel Recherchearbeit. Wie viel Zeit hat es gebraucht, die passenden Ortschaften zu finden, und wer hat euch geholfen, genügend Mitwirkende zu erreichen?

Ungefähr drei Monate, glaube ich. Ganz genau weiß ich es nicht mehr, würde aber jedem raten, der ein ähnliches Projekt plant, für diese intensive Phase, einen Großteil der verfügbaren Zeit einzuplanen. Überall hatten wir zunächst Kontakt zu Partnerorganisationen gesucht, die erstens eine Räumlichkeit zur Verfügung stellen konnten und zweitens ein schon vorhandenes lokales Netzwerk. In Merzig war das ein Mehrgenerationenhaus, in Marzahn-Hellersdorf eine Bibliothek und in Oerbke der „Dorfkrug“, eine Gaststätte. Bei der ersten Runde war eine Voranmeldung nötig und es sollten so unterschiedliche Teilnehmer_innen wie möglich eingeladen werden. Einen Verein, zum Beispiel, baten wir, doch den eigenen Hausmeister einzuladen, um nicht nur die Zielgruppe des lokalen Partners zu treffen. In Ausnahmefällen haben wir zusätzlich in lokalen Medien geworben.

Zwei Teilnehmerinnen tauschen sich über eine Gruppenaufgabe aus (Foto: Jacob&Alex, 2018)
Teilnehmer in Lutherstadt Eisleben (Foto: Jacob&Alex, 2018)

Im Abschlussbericht heißt es, der jüngste Teilnehmer sei 11 Jahre alt gewesen, die älteste Teilnehmerin 94. Wie kam das?

(lacht) Das kam zustande, weil wir in Pirmasens in einem Jugendhaus waren, wo viele Jugendliche nach der Schule Musik machen können oder Kunst oder eben einfach ihre Hausaufgaben. Vorab hatte diese Jugendstätte Teilnehmer_innen ab 18 Jahren angesprochen, aber es kam eben auch dieser Elfjährige, der zu früh dran war für seinen Schlagzeugunterricht. Nachdem wir ihm erzählt hatten, was wir machen, und ihn einluden teilzunehmen, hat er das tatsächlich gemacht. Er hat dann viel über seine Anknüpfungspunkte – europäische Freunde seiner Eltern, über seine Schule – berichtet. Er kannte sich sogar aus mit dem Thema Roaming und wusste, dass man während des Urlaubs im europäischen Ausland keine solche Gebühr mehr zahlen muss. Die 94-Jährigen waren zwei Schwestern, Spaziergängerinnen, die auch spontan teilnehmen wollten.

In Pirmasens ergab der Bürgerdialog dieses Bild (Foto: Jacob&Alex, 2018)

Dein Team vor Ort bestand inklusive dir aus drei jungen Frauen. Denkst du, dieser Umstand hatte einen Effekt auf die Teilnehmenden?

Das ist eine interessante Frage. Meine Vermutung ist, dass es einen positiven Effekt hatte, nicht nur jung und weiblich, sondern auch miteinander befreundet zu sein, wie in unserem Fall. Es gab also kein steifes kollegiales Verhältnis. Das vorhandene Vertrauen war spürbar. Diese ganze Mischung hat uns, denke ich, einen Vorteil beschert. Man hat uns gerne etwas erzählt. Wären wir drei ältere Herren gewesen, die sich nicht wirklich gut kennen, hätten sich diese offenen, ehrlichen Gespräche mit den Bürger_innen wohl nicht ergeben.

Lässt sich daraus nicht auch der Eindruck gewinnen, dass hier patriarchale Strukturen am Werk sind? Obgleich sie euch zum Erfolg geführt haben.

Absolut. Aber es lag auch an unserer Souveränität: Es gibt ja nicht nur Rollen, die einem zugeschrieben werden. Man kann sich auch einer Rolle annehmen. Wir haben auf „Mansplaining“ verzichtet und einfach ausgesendet, dass wir professionell agieren, weil das unser Job ist.

Paulina Fröhlich (Mitte) mit ihrem Team in der Regionalbahn (Foto: Jacob&Alex, 2018)

Kritiker der EU sein bedeutet nicht, ihr Gegner zu sein, sondern sie verbessern zu wollen“, lautet ein Bürgerzitat. Welche anderen Botschaften der Teilnehmenden hast du mitgenommen?

Auf der positiven Seite habe ich erkannt, dass alle etwas zu dem Thema zu sagen haben und fühlen. „Ich hab‘ mit Politik nichts am Hut“ – das stimmt so einfach nicht. Außerdem trage ich diese Erfahrung weiter zu Politiker_innen und Entscheidungsträger_innen, mit denen ich zu tun habe. Andererseits nehme ich die Ressentiments gegen Mittel- und Osteuropa mit. Diese Ablehnung und Abwertung von osteuropäischen Bürger_innen hat mich sehr bestürzt und ich würde mich freuen, wenn sich damit in der Zukunft mehr beschäftigt werden würde. Zu guter Letzt nehme ich mit, wie fantastisch es ist, mit den Bürger_innen am selben Tisch zu setzen, die Diskussionsregeln vorzugeben und ansonsten einfach mal zuzuhören. Diese Qualität, dieses Format eines Bürgerdialogs darf nicht unterschätzt werden.

Wird es eine Fortsetzung oder einen zweiten Teil geben?

Das würde ich mir wünschen. Vor allen Dingen mit Blick auf andere europäische Länder. Gleichzeitig bin ich eine Freundin von Pilotprojekten. Ich denke mir gerne Dinge aus, stoße sie an oder mache sie vor und gebe sie dann auch gerne weiter. Wir hier im Progressiven Zentrum sind ja weder Bildungseinrichtung noch Meinungsforschungsinstitut. Das heißt, einfach das Gleiche kopieren, das wird es eher nicht. Aber neue Dimensionen dazu nehmen und den Projektansatz ausbauen durchaus.

Weitere Infos zu „Europa hört – eine Dialogreise“ sowie den bildstarken Ergebnisbericht und zusätzliche Fotos finden sich hier:
https://www.progressives-zentrum.org/europa-hoert-eine-dialogreise/

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